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Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)

Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)

Titel: Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Henrik Nielsen
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nickt.
    »Wer ist dieser Junge? Er ist doch ein Junge?«, fragt Fride.
    »Ja. Er ist ein Junge. Aber er sah sehr wild aus.«
    »Denkst du, er ist gefährlich?«
    »Ich weiß es nicht. Wollen wir uns nicht hinlegen?«
    »Denkst du, er ist uns gefolgt?«, fährt Fride fort.
    »Nein. Und selbst wenn, hier sind wir sicher. Hier kommt er nicht rein. Jetzt müssen wir schlafen.«
    Dann legen sie sich in das große, gemachte Bett.
    Fride kuschelt sich ganz dicht an ihre große Schwester. Nanna liegt wach und starrt in den bläulichen Schimmer an der Decke. Die Geräusche der Stadt von früher sind fort. Es ist so still.
    »Ich kann nicht schlafen«, sagt Fride und schaut Nanna an.
    »Aber das musst du«, sagt Nanna und legt den Arm um ihre Schwester.
    »Ich muss immerzu an diesen Jungen denken. Vielleicht sind da draußen ja noch mehr? Papa hat doch immer gesagt, dass böse Menschen kommen können. Deshalb haben wir uns doch so lange versteckt.«
    »Denk jetzt nicht mehr daran«, sagt Nanna. »Denk daran, dass wir in der Stadt sind. Denk daran, wie Papa sich freuen wird, wenn wir mit der Medizin nach Hause kommen.«
    »Ja«, sagt Fride und drückt sich noch fester an Nanna.
    »Soll ich dir eine Geschichte von Plim erzählen?«, fragt Nanna.
    »Ja«, flüstert Fride.

19
    Er sitzt draußen . Die Worte dringen in ihren Schlaf. Er sitzt draußen . Nanna öffnet die Augen und schaut direkt in Frides Gesicht.
    »Er sitzt draußen«, wiederholt Fride leise. »In einem Baum.«
    Nanna schaut sich um, ohne zu verstehen, wo sie ist. Ihr ganzer Körper tut weh. Die Decke riecht alt und muffig. Staubkörner glitzern wie kleine Sterne im Sonnenlicht, das durchs Fenster fällt, und auch Möbel und Spiegel sind von einer dicken Staubschicht bedeckt. Nanna macht die Augen wieder zu.
    »Ich bin so müde. Ich will schlafen. Weck mich später wieder.«
    »Nein«, flüstert Fride. »Du musst aufwachen. Er sitzt draußen und beobachtet uns.«
    »Wer sitzt draußen?«
    »Er.«
    »Wer er?«
    »Der Junge. Der von gestern.«
    Nanna öffnet die Augen.
    »Wo ist er?«
    »Er sitzt draußen, das habe ich doch schon gesagt.«
    »Was macht er?«
    »Er sitzt in einem Baum und schaut zu uns hoch.«
    »Wie lange ist er da schon?«
    »Ich bin aufgewacht und wollte dich nicht wecken. Aber dann ist mir langweilig geworden und ich habe aus dem Fenster geschaut. Und da saß er da.«
    »Hat er dich gesehen?«
    »Ich glaube nicht.«
    »Du hättest nicht ans Fenster gehen dürfen«, sagt Nanna, während sie auf den Boden kriecht. »Leg dich ins Bett und bleib da.«
    Vorsichtig hebt sie den Kopf über die Fensterbank und schaut nach draußen. Sie sieht einen kleinen Platz mit ein paar Bäumen und einem Spielplatz in der Mitte. Rundherum sind kleine Läden mit schmutzigen Schaufenstern.
    »Ich sehe ihn nicht«, flüstert Nanna.
    »Aber er ist da.«
    Nanna zwingt sich, ganz ruhig sitzen zu bleiben und zu warten. Dann scheint ein Ast zum Leben zu erwachen, und sie sieht, wie sich ein verlumpter Arm ausstreckt. Er ist kaum zu erkennen. Die schwarzen Fetzen sind zwischen den Zweigen fast unsichtbar. Das Gesicht des Jungen ist hübsch, aber um seine dunklen Augen liegt ein trauriger Zug. Nanna schaut genauer hin und für einen Moment treffen sich ihre Blicke. Er schaut sie direkt an und sein Gesicht wird hart und unfreundlich. Nanna wirft sich auf den Boden.
    »Komm, Fride. Er hat mich gesehen. Wir müssen die Tür überprüfen.«
    Sie kriechen durch den schummrigen Flur zu den Möbeln, die sie vor die Tür geschoben haben.
    »Hier kommt er nicht rein«, sagt Nanna.
    Sie bleiben lange im Halbdunkel sitzen, ohne etwas zu sagen. Nanna spürt, wie sich Mutlosigkeit in ihr breitmacht. Sie werden es niemals schaffen. Und Papa? Sie will gar nicht daran denken, was passieren kann. Was, wenn er schon tot ist?
    »Wir müssen etwas unternehmen«, flüstert sie Fride zu.
    Fride nickt.
    »Wir müssen versuchen, in den Innenhof zu kommen und durch eine der anderen Zufahrten zu verschwinden. Wir müssen uns rausschleichen und hoffen, dass er uns nicht sieht«, sagt Nanna. »Schau nach, ob er noch immer im Baum sitzt.«
    Nanna holt den Rucksack, während Fride zum Fenster zurückkrabbelt.
    »Ist er da?«
    »Ja.«
    »Was tut er?«
    »Er sitzt nur da.«
    »O.k. Wir gehen jetzt.«
    Vorsichtig schieben sie die Möbel zur Seite und kriechen in den Flur. Im Tageslicht sehen sie, dass der Teppich schmutzig ist und die Wand voller Wasserflecken. Immer wieder bleiben sie stehen und warten. Es

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