Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)
fragt Fride.
»An einen Ort, an dem es sicher ist.«
»Wo ist das?«
»Das sage ich nicht. Aber dort kommen die Schatten nicht hin.«
Fride schaut Nanna an und ihr Griff um den Anhänger wird fester.
»Die Schatten?«
20
Vogel sieht Nanna spöttisch an.
»Dachtet ihr etwa, ihr wärt alleine in der Stadt?«
»Nein. Ich weiß nicht«, sagt Nanna. »Was sind das für Schatten?«
Vogel feixt. »Keine Ahnung. Ich habe mich nie mit ihnen unterhalten. Und mich nie von ihnen erwischen lassen.«
»Sind sie böse?«, fragt Fride.
»Ja«, sagt Vogel. »Wenn ihr sie seht, lauft weg. Sonst ziehen sie euch unter die Erde.«
»Sind das Menschen?«, fragt Fride.
»Das weiß ich nicht«, sagt Vogel.
»Wie sehen sie aus?«, fragt Nanna.
»Sie sind schwarz. Aber jetzt muss ich los. Es ist nicht schlau, sich hier in der Stadt länger an einem Ort aufzuhalten. Vielleicht bis bald«, sagt Vogel und geht zu einem schmalen Gässchen zwischen den Häusern.
Er dreht sich nicht mehr um und kurz bevor er in der Gasse verschwindet, stößt er einen seiner Schreie aus. Dann ist er weg. Fride und Nanna stehen alleine am Baum.
Die hohen Stadthäuser über ihnen sehen mit einem Mal irgendwie bedrohlich aus und es ist unmöglich, alle Fenster im Blick zu behalten. Wir sind nicht alleine in der Stadt, denktNanna. Ein Junge, der sich Vogel nennt, ist auch hier. Und die Schatten? Sie könnten überall sein. Man darf sich nicht zu lange an einem Ort aufhalten, hat Vogel gesagt. Dann kommen sie.
»Steig ein, Fride. Wir müssen unsere Wohnung finden.«
»Können wir nicht erst zum Rummelplatz fahren?«, fragt Fride.
»Nein, dafür haben wir keine Zeit«, sagt Nanna und schaut auf die Karte. »Wenn wir uns beeilen, sind wir vielleicht schon wieder bei Alma und Trym, bevor es dunkel wird.«
»Ja, aber dann können wir ja gar nichts Lustiges hier in der Stadt machen.«
»Das machen wir, wenn Papa wieder gesund ist. Ich glaube, wir müssen in diese Richtung. Der Park liegt mitten in der Stadt. Wir haben ihn ja gestern von oben gesehen und wenn wir ihn gefunden haben, dann kenne ich mich bestimmt wieder aus.«
●
Mitten in der Stadt sind weder das Meer noch der Fluss zu sehen. Kleine Straßen führen kreuz und quer durcheinander und Nanna hat das Gefühl durch ein Labyrinth zu irren, bis sie schließlich eine breite Allee erreichen.
»Ich glaube, hier waren wir schon mal«, sagt Nanna. »Gestern, als wir gekommen sind.«
Nachdem sie ziemlich lange der Allee gefolgt sind, hält Nanna an einer großen Kreuzung an. Die Sonne scheint und der Asphalt und die Häuser reflektieren die Hitze. An jeder Ecke der Kreuzung sind Straßencafés, nur an einer steht ein großes Gebäude mit hohen Säulen und vergoldeten Statuen hoch oben unter dem schrägen Dach. Auf manchen Café-Tischen stehennoch Gläser und Teller, als hätte bis eben jemand hier gesessen, umgeworfene Stühle liegen daneben. Die Fassaden sind mit schönen Ornamenten verziert, aber vor den Türen türmt sich Abfall, den der Wind dorthin getragen hat.
»Wieso halten wir? Sind wir da?«, fragt Fride.
»Nein«, antwortet Nanna. »Ich bin mir nicht sicher, ob wir hier richtig sind. Wir hätten längst am Park sein müssen. Aber es ist so schwierig den Weg zu finden, solange wir nicht mal die Baumwipfel sehen können. Wir müssen irgendwo falsch abgebogen sein.«
Unten im Bunker wusste Nanna immer, wo sie waren und in welche Richtung sie das Periskop drehen musste. Aber hier ist alles so verwirrend. Es gibt so viele Straßen, Kreuzungen, Gebäude, Wolken und Wind.
»Weißt du nicht, wo wir sind?«, fragt Fride.
»Nein, nicht so ganz. Ich muss kurz nachdenken«, antwortet Nanna.
»Können wir denn nicht ins Café gehen?«, fragt Fride.
»Da gibt es bestimmt nichts mehr, aber wir essen trotzdem hier. Nur können wir nicht so lange sitzen bleiben, du hast gehört, was Vogel über die Schatten gesagt hat. Wir dürfen nicht zu lange an einem Ort bleiben.«
»Wo wohnen die Schatten?«
»Ich weiß es nicht«, sagt Nanna. »Vielleicht irgendwo, wo es dunkel ist.«
»Vielleicht wohnen sie in einem Keller.«
»Ja, das kann sein.«
»Was sind die Schatten?«
»Ich vermute mal, es sind Menschen. Nicht alle Menschen sind nett. Oder vielleicht haben sie Angst, so wie wir.«
Auf der Straße stehen Autos und genau in der Mitte der Kreuzung liegt eine rostige, grüne Straßenbahn. Nanna kommt sich vor, als würden sie in einer Miniaturwelt stehen. Als wären sie geschrumpft und mitten in
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