Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)
dauert eine Weile, bis sie die Stille spüren und weitergehen. Unten an der Treppe versucht Nanna, auf die Straße zu schauen, aber die Fenster sind mit schweren, roten Vorhängen verhängt und sie will sie nicht zurückziehen. Eilig huschen sie in die Küche, bleiben an der Tür zum Innenhof stehen und öffnen sie vorsichtig.
Über den leeren Innenhof schleichen sie sich an der Mauer entlang. Die Luft ist kühl und die Hauswand noch immer feucht vom Morgennebel. Viele große Stadthäuser mit hunderten dunkler Fenster grenzen an den Hof.
»Das Fahrrad«, flüstert Fride. »Wo ist unser Fahrrad?«
Das Rad und der Anhänger sind fort. Sie stehen nicht mehr hinter den Mülltonnen.
»Was machen wir denn jetzt?«, fragt Fride.
Nanna schaut sich um, dann sagt sie entschlossen: »Wir gehen zu Fuß. Hier können wir nicht bleiben.«
Sie nimmt Fride an der Hand und dreht sich zur anderen Seite des Hofs um, aber Fride sperrt sich.
»Ich sehe es«, sagt sie. »Da drüben steht es.«
Sie hat recht. Mitten auf dem Platz vor dem Hotel steht das Rad mit dem Anhänger. Direkt darüber sitzt der Junge im Baum und beobachtet sie aus dunklen Augen. Wut steigt in Nanna auf und ohne nachzudenken, marschiert sie durch die Einfahrt.
»Warte hier«, sagt sie zu Fride.
Der Junge hält sich am Baumstamm fest und beobachtet sie. Sein Blick ist hart und durchdringend.
»Was willst du von uns?«, ruft Nanna zu ihm hoch.
Er antwortet nicht, sondern funkelt sie zornig an.
»Was willst du?«
Er mustert Nanna lange, dann ruft er: »Was wollt ihr?«
Nanna stutzt, als sie seine Stimme hört. Es klingt, als würden die Worte zum allerersten Mal gesagt. Als wären sie schon immer dagewesen, aber nie ausgesprochen worden.
»Was wollt ihr?«, wiederholt der Junge. »Das hier ist meine Stadt.«
Nanna geht zum Fahrrad und legt eine Hand auf den Lenker. Der schwarze Baumstamm verdeckt den Jungen fast vollständig. Unter den Fetzen trägt er normale Kleidung: eine dreckigeJeans und einen schwarzen Kapuzenpulli. Dicke, dunkle Haare quellen unter der Kapuze hervor.
»Ich will unser Fahrrad zurück«, sagt Nanna.
Der Junge antwortet nicht. Er schaut an Nanna vorbei zu dem Hof, aus dem sie eben gekommen ist. Nanna dreht sich um und sieht, wie Fride auf sie zustapft.
»Bleib in meiner Nähe«, sagt sie.
Fride geht zum Anhänger und hält sich entschlossen am Rahmen fest. Böse starrt sie den Jungen an.
»Da hätten wir ja die andere«, sagt er. »Wie klein sie ist.«
»Wieso verfolgst du uns?«, fragt Nanna.
»Ich verfolge euch nicht.«
»Doch. Das tust du. Fride und ich haben dich auf der Brücke gesehen, gestern warst du auf dem Hausdach. Und jetzt sitzt du hier.«
»Fride. Heißt sie so?«, sagt der Junge fragend.
»Wieso bist du uns gefolgt?«
»Ich bin euch nicht gefolgt. Ihr seid schließlich hierhergekommen.«
»Wohnst du hier?«, fragt Nanna.
»Ja. Schon immer. Wie heißt du?«
»Nanna. Und du?«
»Ich habe keinen Namen.«
»Red keinen Blödsinn. Jeder hat einen Namen.«
»Ich nicht.«
»Dann nicht«, sagt Nanna entschlossen. »Wir gehen jetzt.«
Sie steigt auf das Rad. Der Junge schaut sie lange an.
»Ich nenne mich Vogel«, sagt er und weicht ihrem Blick aus.
»Vogel ist kein Name. Wie heißt du?«
»Ich habe keinen anderen Namen. Ich nenne mich Vogel.«
»Aber jeder Mensch bekommt einen Namen«, sagt Nanna.
»Ich nicht. Ich musste mir selbst einen geben.«
»Hast du keine Eltern, die dir einen ausgesucht haben?«
»Nein.«
»Wo sind deine Eltern?«
»Ich hatte nie welche.«
»Alle haben eine Mama und einen Papa«, sagt Fride.
»Nicht alle. Ich nicht. Und ich war immer hier.«
»Alleine?«
»Ja«, sagt er und schwingt sich vom Baum.
Mit einer Hand hält er sich am untersten Ast fest, einen Fuß auf die Bank neben dem Baum gestellt. Er ist groß und schlank und steht so leichtfüßig, dass er fast zu trippeln scheint.
»Was macht ihr hier?«, fragt er und lächelt ein seltsames Lächeln mit zusammengepressten Lippen und offenen Augen.
»Wir sind gekommen, um …«, ruft Fride eifrig, aber Nanna stoppt sie.
»Wir sind gekommen, um unsere alte Wohnung zu suchen.«
»Wo kommt ihr her?«
»Das will ich nicht sagen.«
»Sind da, wo ihr herkommt, noch mehr Menschen?«
»Ja, unser Papa«, sagt Fride.
Nanna dreht sich hastig um und schaut Fride streng an.
»Wieso ist er nicht hier?«
»Er musste zu Hause bleiben.«
»Ich glaube euch nicht und jetzt muss ich los«, sagt Vogel.
»Wohin gehst du?«,
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