Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)
dem Laden gibt es Kleider. So wie im Einkaufszentrum. Komm her und setz dich, ich habe was für dich.«
»Aber die haben doch gar nichts an«, sagt Fride und kommt zurück.
»Die Kleider wurden bestimmt gestohlen. Schau mal, was ich gefunden habe«, sagt Nanna und zeigt ihr die Limonade.
Fride sagt nichts, sondern starrt nur die Dose an.
»Oh, es ist so lange her, dass ich Limonade getrunken habe«, sagt sie und nimmt die Dose. »Ich kann mich fast nicht mehr erinnern, wann das war.«
»Das war mal zu Weihnachten«, sagt Nanna. »Wir hatten zu Abend gegessen und saßen im Periskopraum. Ich weiß noch, wie sauber alles gerochen hat. Kannst du dich erinnern, wie wir vor Weihnachten geputzt haben?«
Fride nickt.
»Wir haben abwechselnd durch das Periskop geschaut. Überall lag Schnee und die Sterne haben heller gefunkelt als je zuvor. Der Fjord war zugefroren und alles war still. Und dann kam Papa mit den Limonadendosen. Weißt du noch?«
Fride nickt.
»Und damals dachte ich, wie gut wir es doch haben. Stell dir das vor«, sagt Nanna leise und ihr kommen die Tränen.
»Bist du traurig?«, fragt Fride.
»Ja.«
»Wir schaffen es. Ich bin mir ganz sicher. Ich kann es fühlen. Innendrin. Im Herzen«, sagt Fride.
»Jetzt machen wir die Limo auf«, sagt Nanna.
»Wie geht das?«
»Zieh einfach an dem kleinen Dings da oben.«
Fride zieht und die Kohlensäure zischt aus der Dose. Sie schaut Nanna an.
»Trink ruhig«, sagt Nanna.
Fride nimmt einen großen Schluck, dann hustet sie, dass ihr die Limonade über das Kinn läuft.
»Das prickelt«, sagt sie und lacht.
»Das soll es auch.«
Fride trinkt noch ein paar Schlucke, dann gibt sie Nanna die Dose.
»Du kannst den Rest haben«, sagt sie.
»Hat es dir nicht geschmeckt?«, fragt Nanna und nimmt die Limonade.«
»Doch. Aber es ist ein bisschen stark.«
Nanna trinkt und spürt das süße Prickeln und den Geschmack von Orange im Mund. Dann steht sie auf und packt den Rucksack in den Anhänger.
»Irgendwie kommt mir dieser Platz bekannt vor. Schau mal, da drüben«, sagt sie und zeigt auf das große Gebäude mit den vergoldeten Statuen.
»Ich finde, es sieht aus wie ein Theater«, sagt Fride. »Die Masken sind genau wie bei meinem Puppentheater.«
»Ja. Das ist es. Ich war mit Mama und Papa da.«
»Warst du?«, sagt Fride gekränkt.
Nanna erinnert sich an die goldenen Statuen und die vielen Menschen, daran, dass es regnete und stürmte und sie ganznass war, als sie reinkamen. Drinnen war es warm und auf der Bühne war alles so bunt. Sie weiß auch noch, wie sie Mama und Papa in der Straßenbahn gegenübersaß.
»Wir haben die Straßenbahn genommen«, sagt Nanna.
»War Mama auch dabei?«
»Ja.«
»Hast du im Theater neben ihr gesessen?«
»Ja. Zwischen Mama und Papa. Sie hatte Bonbons dabei. Bonbons, die sie nur gekauft hat, wenn wir im Kino oder im Theater waren. Da durfte man nicht mit dem Papier rascheln.«
»Wie ist es im Theater?«
»Schön. Es gibt viele Farben und Licht. Und jede Menge Menschen. Aber jetzt fahren wir. Wir versuchen, den Straßenbahnschienen zu folgen.«
Fride klettert in den Anhänger und sie fahren zu den Schienen, die in eine schmale Seitenstraße abbiegen. Hier stehen die Häuser dicht nebeneinander und Nanna schaut besorgt nach oben. Es fühlt sich gefährlich an, durch so eine enge Straße zu fahren. Die Schatten, von denen Vogel gesprochen hat, könnten überall sein. Und sie haben keine Chance, sich zu verstecken, falls jemand kommt. Die Straße hat ein leichtes Gefälle und sie nehmen ordentlich Fahrt auf.
»Schau nach hinten, Fride«, flüstert Nanna, so laut sie sich traut. »Ob uns jemand folgt.«
Fride richtet sich im Anhänger auf und dreht sich um.
Auch Nanna schaut nach links und rechts und versucht herauszufinden, wo sie sind. Entlang der Bürgersteige sind kleine Geschäfte und Restaurants, aber nichts, was ihr bekannt vorkommt. Die Wohnung könnte überall sein. Ein Haus an einem kleinen Platz gelegen, wie so viele andere, die sie gesehenhaben. Sie müssen den Park finden. Den großen Park mit den Statuen, dem Eiskiosk und den offenen Rasenflächen zwischen langen Baumreihen. Die Wohnung liegt gleich nebenan. Wenn sie nur dorthin finden würden.
Die Straße wird steiler und steiler. In einer Kurve endet die Häuserreihe und vor ihnen öffnet sich der Himmel. Nanna hält an und ruht sich auf dem Lenker aus. Sie schaut auf den Hafen mit den vielen halb versunkenen Schiffen. Eisenbahngleise führen am
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