Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)
immer Ausschau. Und wir spielen viel«, sagt Fride.
»Womit?«
»Wir haben ein kleines Puppentheater, Spiele und Bücher. Und manchmal spielen wir einfach so.«
»Und was macht ihr dann?«
»Wir tun zum Beispiel so, als wäre der Bunker ein U-Boot oder als würden wir an spannende Orte reisen. Oder wir spielen Vater, Mutter, Kind«, sagt Fride.
»Ich mache nicht so oft mit«, sagt Nanna verlegen. »Wenn, dann um Fride eine Freude zu machen.«
Fride schaut Nanna zweifelnd an.
»Aber du spielst doch ständig«, sagt sie.
»Nein«, sagt Nanna. »Ich lese und zeichne. Das ist was anderes als Spielen.«
»Und euer Vater? Macht er mit?«
»Ja, manchmal. Aber nicht so oft«, sagt Fride.
Nanna mustert Vogel, der Fride intensiv zuhört. Er starrt sie mit offenen Augen an und fragt und fragt. Wie sie schlafen, wer das Essen kocht, wie Weihnachten ist, Geburtstag, wie sie zeichnen und malen. Er fragt alles.
»War es nicht langweilig, immerzu in einem dunklen Bunker zu sein? Ich bin gerne im Wald, da ist alles offen und schön«, sagt Vogel.
»Doch, ein bisschen schon. Aber das Wichtigste war, in Sicherheit zu sein.«
»Mich würde niemand in so einen Bunker kriegen. Niemals. Lieber würde ich sterben«, sagt Vogel.
Nanna schaut Fride an, aber sie sagt nichts.
»Erzählt mir von dem Puppentheater«, sagt Vogel.
»Nein, jetzt bist du dran«, sagt Nanna. »Womit hast du gespielt?«
Vogel wird still. Er stochert in einer Schale mit Schokolade. Dann sagt er: »Ich habe nicht gespielt. Ich war einfach nur hier. Hier gibt es niemanden, mit dem man spielen kann.«
»Was hast du dann gemacht?«, fragt Nanna.
»Ich war einfach nur da. Habe die Stadt erforscht. Und mir Sachen beigebracht. Ich war beinahe überall. Ich weiß, wo alles ist, und ich kann mir alles beschaffen.«
»Aber jemand muss dir doch Sprechen beigebracht haben?«, sagt Fride.
»Nein. Ich konnte es schon immer.«
»Aber mit wem hast du dich denn unterhalten?«, fährt Fride fort.
»Mit niemandem. Ich habe mir auf dem da Geschichten angehört«, sagt er und zeigt auf ein Gerät. »Das ist ein CD-Spieler, er funktioniert mit Batterien. Die Geschäfte sind voll von Geschichten. Ich könnte nicht mal dann alle hören, wenn ich bis an mein Lebensende hierbleiben würde.«
»Aber du hast nie gespielt?«, fragt Nanna.
»Einmal habe ich eine Straßenbahn kaputtgemacht.«
»Eine Straßenbahn?«
»Ich wollte wissen, wie so was funktioniert, und da ist sie losgerollt. Sie ist direkt in ein Geschäft gefahren. Ich habe furchtbar geblutet. Und einmal habe ich ein Haus angezündet.«
»Wieso das denn?«
»Keine Ahnung. Ich wollte wissen, wie es aussieht. Das hat doch nichts zu bedeuten.«
»Hattest du keinen geheimen Ort?«, fragt Fride.
»Doch«, sagt Vogel. »Den fantastischsten Ort, den es gibt. Aber mehr kann ich nicht sagen. Vielleicht zeige ich ihn euch irgendwann, wenn ihr bei mir bleibt.«
»Wir bleiben nicht«, sagt Nanna, obwohl sie gerne wissen würde, was Vogels Geheimnis ist.
»Warum nicht? Hier im Baumhaus seid ihr sicher. Und genug Essen gibt es auch.«
»Das geht nicht. Wir müssen wieder nach Hause.«
»Es ist nicht sicher, dass noch jemand da ist, wenn ihr zurückkommt«, sagt Vogel.
Nanna antwortet nicht. Fride schließt die Augen und drückt sich an sie.
»Wir fahren trotzdem«, sagt Nanna.
Sie bleiben eine Weile sitzen, ohne etwas zu sagen. Dann steht Vogel auf und sagt: »Ich glaube, ich schlafe heute Nacht oben im Baum. Es ist so anders, mit Euch hier.«
Durch das Fenster sehen sie, wie Vogel leichtfüßig nach oben klettert und zwischen den Zweigen verschwindet. Nanna löscht das Licht und sie kriechen in die Schlafsäcke.
»Es wird schön, morgen wegzufahren«, sagt Fride. »Ich freue mich auf Papa. Vielleicht können wir in der Bucht baden, wenn wir wieder zu Hause sind? Und Muscheln suchen. Denkst du, das geht?«
»Ja, das denke ich. Das wird schön. Das wird wunderschön«, sagt Nanna und spürt die Tränen kommen. Sie dreht sich zur Wand, damit Fride nicht sieht, dass sie weint.
»Was glaubst du, hat Vogel für ein Geheimnis?«, fragt Fride.
»Ich weiß es nicht. Wir müssen jetzt schlafen. Gute Nacht.«
»Gute Nacht«, sagt Fride und rollt sich zusammen.
Nanna schaut aus dem Fenster nach oben, dorthin, wo Vogel jetzt ist. Alles ist still und sie versucht, zwischen den Zweigen etwas zu erkennen. Sie kann ihn nicht sehen. Aber sie weiß, dass er irgendwo dort oben ist, irgendwo zwischen dem Baum und den
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