Der Junge, der Träume schenkte
...«
»Und Amerikaner werden kannst, ja, ich weiß«, fiel Christmas ihr lachend ins Wort und stand auf. »Lass uns nach Hause gehen, Mama, ich habe Hunger. Auch Amerikaner müssen essen, stimmt’s?«
Sal hatte ihr gesagt, er werde am siebzehnten Juli 1916 aus dem Gefängnis entlassen. In zwei Wochen, hatte Cetta gedacht. Da war sie zweiundzwanzig, Christmas acht Jahre alt.
Unaufhörlich hin- und hergerissen zwischen Erregung und Angst, Freude und Unbehagen, zählte Cetta die Tage. Fortwährend dachte sie an die gemeinsamen Sonntage mit Sal zurück, als wollte sie sich schon jetzt an seine Anwesenheit gewöhnen. Und wenn sie ihn im Gefängnis besuchte, erinnerte sie auch ihn daran, wie um sicher zu sein, dass er auch zu ihnen zurückkam.
Nach den einsamen und beständigen Jahren, in denen Cetta sich nur um Christmas gekümmert hatte, war sie nun rastlos und konnte keinen Moment stillsitzen. Im Kellerraum hielt sie es nicht aus, vor allem nicht an den Sonntagen.
»Lass uns rausgehen«, sagte sie an einem dieser Sonntage zu Christmas und schleifte ihn durch die Straßen. Sie hatte kein bestimmtes Ziel vor Augen. Das aber war auch nicht wichtig. Spaziergänge lenkten sie ab. Mit jedem Schritt verging eine Sekunde. Eine Sekunde weniger bis zu dem Augenblick, in dem sie Sal auf dem Boot der New Yorker Strafvollzugsbehörde entdecken würde. Eine Sekunde weniger, bis Sal und sie einander in die Augen sehen würden, beide frei.
Während Cetta so in den Straßen der Lower East Side umherlief, bemerkte sie auf einmal eine Menschentraube und wehende amerikanische Flaggen. »Komm, wir gehen mal gucken, Schatz«, sagte sie. Im Näherkommen entdeckte sie einen kleinen, gedrungenen Mann auf einer mit Kokarden geschmückten Holzbühne, der allen Bewohnern der Lower East Side seinen Dank aussprach. Sein heiter und entschlossen wirkendes Gesicht kam Cetta bekannt vor, doch sie hätte nicht zu sagen vermocht, woher sie es kannte. »Wer ist das?«, fragte sie eine Frau aus der Nachbarschaft.
»Das ist der Typ, der uns im Kongress vertritt. Er heißt Fiorello ... Soundso. Er hat einen komischen Namen, wie dein Christmas.«
Und da plötzlich blieb Cetta fast das Herz stehen, als sie begriff, wer der Mann auf der Bühne war. Sie wartete, bis der Politiker seine Rede beendet hatte, dann bahnte sie sich einen Weg durch die Menge und trat zutiefst aufgewühlt an ihn heran. »Signor LaGuardia!«, rief sie mit lauter Stimme. »Signor LaGuardia!«
Der Mann wandte sich um. Sofort schoben sich zwei bullige Leibwächter zwischen ihn und Cetta.
»Sieh ihn dir gut an, Christmas«, sagte Cetta, als sie Fiorello LaGuardia erreichte. Sie drängte sich zwischen die beiden Gorillas, reckte sich nach dem Mann vor, ergriff seine Hand und küsste sie. Daraufhin zog sie Christmas zu sich heran und schob ihn auf den Politiker zu. »Das ist mein Sohn Christmas«, erklärte sie ihm. »Seinen amerikanischen Namen hat er von Ihnen.«
Fiorello LaGuardia, der nicht begriff, sah sie peinlich berührt an.
»Vor beinahe acht Jahren«, fuhr Cetta aufgeregt fort, »kamen wir mit dem Schiff in Ellis Island an, und da waren Sie ... Sie sprachen als Einziger Italienisch ... Der Inspektor verstand nicht, und Sie sagten ... Mein Sohn hier hieß Natale ... Und Sie sagten ...«
»Christmas?«, fragte Fiorello LaGuardia amüsiert.
»Christmas Luminita, ja«, bestätigte Cetta stolz und bewegt. »Und nun ist er Amerikaner ...« Tränen stiegen ihr in die Augen. »Berühren Sie ihn. Ich bitte Sie, legen Sie ihm die Hand auf ...«
Unbeholfen legte Fiorello LaGuardia seine rundliche kleine Hand auf Christmas’ blonden Schopf.
Cetta stürzte auf ihn zu und umarmte ihn. Gleich darauf wich sie zurück. »Verzeihen Sie, verzeihen Sie, ich ...« Sie wusste nicht mehr weiter. »Ich ... ich werde Sie immer wählen«, rief sie mit Nachdruck aus. »Immer.«
Fiorello LaGuardia lächelte. »Dann müssen wir ja schnellstens für das Frauenwahlrecht sorgen«, sagte er.
Die Männer, die bei ihm standen, lachten. Cetta begriff nicht und wurde rot. Sie blickte zu Boden und wollte gerade gehen, als Fiorello LaGuardia Christmas’ Arm in die Höhe hob.
»Für die Zukunft dieser jungen Amerikaner werde ich in Washington kämpfen!«, sagte er laut genug, dass alle Anwesenden ihn hören konnten. »Für diese neuen Helden!«
Cetta blickte auf ihren Sohn. Heul nicht, du dumme Gans!, ermahnte sie sich stumm. Doch im Nu verschleierte sich ihr Blick, und Tränen strömten ihr über
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