Der Junge, der Träume schenkte
richtete ihn wieder auf, während der Blonde ins Auto stieg und der Fahrer Vollgas gab.
Ich sollte eigentlich Angst haben, dachte Christmas, als er mit der Stirn gegen die Schulter des Mannes mit dem Cockerspanielgesicht prallte und ihm dabei den Anzug beschmierte. Der Mann stieß ihn von sich, das Lächeln auf seinen wulstigen Lippen erstarb. Er hob den Arm, um den Blutfleck auf seinem Anzug zu begutachten. Im nächsten Moment spürte Christmas einen Ellbogen, der ihm die Unterlippe gegen die Zähne schlug. Und er hörte den Mann mit dem Cockerspanielgesicht sagen: »Blöder Idiot.«
Christmas lehnte den Kopf nach hinten an den Ledersitz, der nach billigen Zigarren und Schießpulver roch. Er forschte in seinem Innersten nach der Spur eines Gefühls, tauchte jedoch mit leeren Händen wieder auf. Er schloss die Augen und lauschte. Nichts. Ich sollte eigentlich Angst haben, sagte er sich wieder und warf einen raschen Blick zu dem Mann hinüber, der finster vor sich hin starrte. Aber es kümmert mich einen Scheiß.
Peps Tod hatte eine Reihe von Fragen in ihm aufgeworfen, denen Christmas sich nie hatte stellen wollen. Ihm war so vieles bewusst geworden. Wäre er danach gefragt worden, wie er die zwei Jahre, seit Ruth nach Kalifornien aufgebrochen und aus seinem Leben verschwunden war, verbracht hatte, er hätte es nicht sagen können. Er hatte sich ganz einfach dem Leben überlassen, so wie er sich auch jetzt, auf dem Rücksitz des Wagens, dem Leben überließ. Phasen jugendlicher Unbekümmertheit hatten sich mit Phasen jugendlicher Verzweiflung abgewechselt, ohne dass die einen oder die anderen Narben bei ihm hinterlassen hatten. Hätte er jedoch eine Art roten Faden, ein Bindeglied zwischen beiden nennen sollen, so hätte er einzig von jenem Abend vor zwei Jahren in der Grand Central Station gesprochen. Und von Ruths Augen, die unablässig auf ihm gelegen hatten. Von dem langen Zug hätte er erzählt, der immer kleiner wurde und schließlich ganz im Schlund der Wolkenkratzer verschwand, der ihm Ruth wegnahm und ihm die einzige tiefe, entstellende Wunde seines Lebens zufügte, die noch immer blutete und niemals heilen würde. Er hätte sich erinnert, wie ihn die vielen Menschen auf den Bahnsteigen angerempelt hatten, als sähen sie ihn gar nicht, als wäre er nicht da, und er hätte jedes einzelne ihrer tausend überflüssigen Worte wiederholen können, die ihm auch jetzt, zwei Jahre später, noch in den Ohren rauschten wie Brandungswellen, die mit tiefem Grollen gegen Felsen schlugen, wie das Gekreische der Möwen am Strand. Eine sinn- und kraftlose Kakofonie, die nicht gegen seine eigene Stimme ankam, die unablässig flüsterte: »Ruth ...«
Und während der Cadillac auf ein unbekanntes Ziel zubrauste, überlagerten sich in seinem durch die Schläge verwirrten Verstand die Worte »Idiot« und »Ruth« und formten dann einen einzigen Gedanken. Du bist noch immer der Idiot, der Ruth liebt. Da schloss er die Augen und lächelte. Und zugleich war ihm nach Weinen zumute, so stur und beharrlich war seine Liebe, die ihn an jenen Abend in der Grand Central Station kettete. Die es ihm unmöglich machte, sein Leben zu leben, da sie ihn – wie ein Strudel, dem man nicht entrinnen kann – zu dem einen Augenblick hinzog, in dem er nicht imstande gewesen war, einen Schritt auf Ruth zuzugehen, durch die kalte Fensterscheibe hindurch ihre Hand zu berühren und ihr all seinen Schmerz entgegenzuschreien.
Der Cadillac glitt durch die staubigen Straßen des Ghettos. Christmas’ Kopf pochte heftig, seine Lippe schwoll immer mehr an. Der Mann mit dem Cockerspanielgesicht mühte sich, mit einem Taschentuch das Blut von seiner Anzugjacke zu reiben.
»Wo bringt ihr mich hin?«, fragte Christmas mit ausdrucksloser Stimme.
Mit dem Finger an den Lippen forderte der Blonde ihn auf zu schweigen.
»Was wollt ihr?«
Heftig und unerwartet schlug der Blonde ihm die Faust in die Magengrube. Christmas krümmte sich atemlos zusammen. Der Fahrer lachte und wich einem Fußgänger aus, wodurch der V-63 ins Schleudern geriet. Christmas prallte gegen den Arm des Blonden.
»So was, du bist echt ein blöder Idiot!«, schimpfte der und versetzte Christmas einen Schlag gegen den Hals.
Das kümmert mich einen Scheiß, dachte Christmas wieder und stöhnte vor Schmerz.
In den Wochen gleich nach Ruths Abreise war es Christmas eines Nachts mit Joeys Hilfe gelungen, in die kleine Pförtnerloge in der Park Avenue einzubrechen. Er hatte einen Brief
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