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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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Stuhl drückte – sah er wieder die Straße vor sich, die Welt, die Joey ihm gezeigt hatte und in die er sich ohne Gegenwehr, ohne die Folgen zu bedenken, hatte hineinziehen lassen. Er dachte an sein Leben, an die beiden zurückliegenden sinnlosen Jahre und begriff, dass er in eine Sackgasse geraten war.
    Mit einem gezielten Stoß versenkte der Mann, der mit dem Rücken zu ihm stand, die Acht in der Seitentasche. Die unterhalb der Mitte getroffene weiße Kugel stoppte unmittelbar nach ihrem Aufprall auf die Acht und rollte dann unter der Wirkung des Effets langsam zurück, bis sie eine Handbreit vor der Fünf nah bei einer der Ecktaschen liegen blieb.
    »Guter Stoß, Chef«, rief ein kleiner, untersetzter Typ mit buschigen Augenbrauen und einem stumpfen, seltsam affenartigen Gesicht. Dem Mann ragte eine schwere Pistole aus dem Schulterholster.
    Ohne ihn auch nur eines Blickes, geschweige denn einer Antwort zu würdigen, wandte der Billardspieler sich zu Christmas um. Den Queue in der Hand, musterte er ihn schweigend.
    Seitdem der Rolls des alten Saul Isaacson zum ersten Mal in der Monroe Street vor dem Haus, das Sal Tropea gehörte, vorgefahren war, hatte die gesamte Lower East Side an die Geschichte geglaubt, die Christmas erfunden hatte. Alle hatten sich – ganze vier Jahre lang – den Namen dieses Mannes zugeraunt, da sie überzeugt waren, Christmas mache Geschäfte mit ihm. Mit dem Mann, der als »Mr. Big« oder »The Fixer« oder »das Gehirn« bekannt war. Dem Mann, der stets ein dickes Bündel aufgerollter Geldscheine bei sich trug und der 1919 die World Series der Baseball-Liga manipuliert hatte. Dem Gangsterboss, den Christmas in Wahrheit nie kennengelernt hatte, dem Mann aus Uptown. Christmas erkannte ihn sofort. Er hatte von der diamantenbesetzten Krawattennadel und der goldenen Uhr erzählen hören. Und von den langen, schlanken Fingern und den schmalen Handgelenken.
    Der Mann ließ ihn nicht aus den Augen, während er auf ihn zukam. Er war schlank und von dunkler Schönheit, hohe Stirn und markante Nase, schmale Lippen, leicht schräge Augen und ein Leberfleck auf der linken Wange. Mit seiner natürlichen Eleganz wirkte er nicht wie ein Gangster. Sein maßgeschneiderter Wollanzug war dunkel und stilvoll. Wie ein Geschäftsmann sah er aus. Und er war auch einer, das wusste Christmas. Was ihn aber am meisten beeindruckte, war die Art, wie der Mann ihn schweigend ansah. Liebenswürdig und eiskalt zugleich, gleichsam als mischten sich in seinem Blick Eleganz und Brutalität.
    Ohne ein einziges Wort gesagt zu haben, kehrte der Mann an den Billardtisch zurück. Und während er die Fünf im Eckloch versenkte und anschließend die Lage der anderen Kugeln studierte, als wäre er allein im Raum, spürte Christmas, dass er seine Angst nicht mehr zu beherrschen vermochte.
    »Mr. Rothstein ...«, hob er mit dünner Stimme an.
    Arnold Rothstein drehte sich nicht um. Er gab der weißen Kugel einen seitlichen Effet, sodass sie von der Bande rückwärts abprallte und dabei gegen die Dreizehn stieß, die vom Loch verschluckt wurde. Rothstein richtete den Queue auf die Drei in der entgegengesetzten Ecke. Zwischen dem Spielball und der Drei lag die Neun.
    Es kümmert mich einen Scheiß, dachte Christmas in dem Moment, und die Angst, die ihm die Kehle zugeschnürt hatte, verflog mit einem Mal. Und urplötzlich wurde ihm klar, dass sein Weg nirgendwohin führte, dass er seit zwei Jahren sein Leben wegwarf. Und wie die Billardkugeln war er früher oder später dazu bestimmt, in einem schwarzen Loch zu verschwinden. »Es kümmert mich einen Scheiß«, sagte er da mit kraftvoller Stimme und richtete sich ein wenig auf dem Stuhl auf.
    Rothstein verpatzte den Stoß. Der Holzqueue vibrierte misstönend, die weiße Kugel nahm einen Schlingerkurs, stieß gegen die Neun und blieb, während sie sich um sich selbst drehte, mitten auf dem grünen Tuch liegen. Eine unnatürliche Stille senkte sich über den Raum.
    »Was hast du gesagt, Junge?«, fragte Rothstein und warf den Queue auf den Tisch.
    Christmas hatte keine Angst mehr. War er am Ende der Sackgasse angelangt? Vielleicht. Aber waren die vergangenen zwei Jahre nicht eine einzige, lange Sackgasse gewesen? Wortlos sah er Rothstein an.
    »Hast du ihm was erklärt?«, wandte sich Arnold Rothstein an Lepke.
    Louis Lepke Buchalter schüttelte den Kopf.
    »Nein ...«, sagte Rothstein. »Kannst du dir denn vorstellen, Junge, weshalb du hier bist?«
    Christmas verneinte. Seine Lippe und

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