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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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bereits Nacht. Ziellos spazierte Christmas durch die dunklen Straßen Manhattans und dachte an seinen Tag zurück.
    Das Mittagessen bei Cyril hatte für eine Überraschung nach der anderen gesorgt. Christmas hatte einen Teil der Stadt kennengelernt, von dem er bisher nicht das Geringste gewusst hatte. Ab der 110th Street, wo das weite Grün des Central Parks endete, bot das Reichenviertel mit einem Mal einen ganz anderen Anblick, und nach wenigen Häuserblocks begannen die als »Negro Tenements« bezeichneten Mietskasernen rund um die 125th Street, die sich durch nichts von denen im Lower-East-Side-Ghetto, in dem Christmas aufgewachsen war, unterschieden. Cyril jedoch lebte nicht in einem dieser riesigen Gebäude. Sein Haus war aus Holz und Ziegelsteinen in einem Stil gebaut, den Christmas aus Bensonhurst und überhaupt aus Brooklyn kannte.
    In dem baufälligen Haus mit zwei Stockwerken und einer Fassade, der die feuchtkalten Winter und die schwüle Sommerhitze New Yorks arg zugesetzt hatten, lebte Cyril mit seiner Frau Rachel, deren Schwester Eleanore, seinem Schwager Marvin, dem Bürgerrechtsaktivisten, und ihren drei Kindern im Alter von fünf, sieben und zehn Jahren. Außerdem waren da noch Cyrils betagte Mutter Oma Rochelle – Tochter zweier Sklaven aus dem Süden und Witwe eines befreiten Sklaven – und der Vater seines Schwagers, Nathaniel, der in seiner Jugend mit dem Vater von Count Basie befreundet gewesen war und die ganze Zeit über auf einem leuchtend grün lackierten Klavier, das in der Küche stand, herumklimperte, untermalt von Oma Rochelle, die immer wieder leise vor sich hin brummelte, alle Künstler seien nichtsnutzige Halunken. Christmas nahm am Tisch Platz und aß vom Süßkartoffelauflauf und einem gewaltigen Katzenwels mit, die die Frauen zubereitet hatten.
    Was Christmas aber neben der Selbstverständlichkeit, mit der man ihn im Haus aufnahm, am meisten in Erstaunen versetzte, war die Hütte, die Cyril als seine »Werkstatt«, bezeichnete. In Wahrheit stand auf dem kleinen Grundstück hinter dem Haus nichts als eine wacklige Holzruine – vielleicht die ehemalige Latrine –, die Cyril mit bunt zusammengezimmertem Abfallmaterial zu einem kleinen Schuppen ausgebaut hatte. Im Inneren der Werkstatt herrschte ein noch größeres Chaos als im Lager von N. Y. Broadcast. Darunter fanden sich einige höchst seltsame Dinge. Voller Bewunderung für Cyrils Erfindungsgabe nahm Christmas eines nach dem anderen in Augenschein.
    »Das sind Prototypen«, erklärte Cyril stolz. »Alle absolut funktionstüchtig. Schau mal hier.« Er nahm zwei dünne Holzpfähle zur Hand, die sich zusammenstecken ließen, und befestigte den so entstandenen Mast von fast zwanzig Fuß Höhe an der Außenwand der Hütte. Am oberen Ende des Mastes schwankte eine simple Antenne hin und her. Cyril leitete Strom in einen schwarzen Kasten hinein, der daraufhin zu surren begann. Daran schloss er ein Mikrofon an und rollte das Kabel bis in die Küche aus, wo er das Mikrofon neben dem alten Nathaniel aufstellte, der, während die Frauen mit dem Abwasch beschäftigt waren, unbeirrt weiter auf dem Klavier herumklimperte. Schließlich ging er mit Christmas die Straße hinunter und noch einen Häuserblock weiter. Vor einer geschlossenen Drogerie blieb er stehen und klopfte an die Tür.
    »Mach auf, Nigger!«, brüllte er, und als der Ladenbesitzer ihm mit einem tiefen, heiseren Lachen öffnete, führte Cyril Christmas ins Haus. Nachdem die Röhren eines abgenutzten Radioempfängers sich aufgeheizt hatten, erklangen im Hinterzimmer deutlich das Klavierspiel und Oma Rochelles Gemurre über die nichtsnutzigen Künstler.
    »Na, was sagst du dazu, Bleichgesicht?«, fragte Cyril mit stolzgeschwellter Brust, die Hände in die Hüften gestemmt. »Ich habe meinen eigenen Sender.«
    Christmas fehlten noch die Worte, als sie zurück in der Werkstatt waren. »Du bist ein Genie«, brachte er schließlich hervor.
    Mit stiller Freude grinste der Lagerarbeiter verlegen, bevor er den Mechanismus wieder abbaute und ein Tuch anhob. »Hier ist das Radio für deinen Freund. Es ist nicht besonders schön, aber es funktioniert«, sagte er und zeigte auf einen kleinen alten Topf, in den er, um die Röhren befestigen zu können, Löcher gebohrt hatte. »Ich baue sie zusammen und verschenke sie an die Schwarzen hier im Viertel.« Dann erkundigte Cyril sich nach dem Namen der Brautleute, griff zu einem Pinsel und etwas schwarzem Lack und malte mit der zittrigen,

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