Der Junge, der Träume schenkte
Diamond Dogs! «, verkündete er. Dann gab er dem Tontechniker ein Zeichen.
Dunkelheit senkte sich über den Saal.
»Hoch mit dem Lappen!«, klang es durch den Saal. Stille. Und dann noch einmal: »Hoch mit diesem Lappen!« Das Echo des Schreis verhallte.
Karl wischte über seine Stirn. Er war schweißgebadet. Zum Teufel auch, dachte er und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Dabei erfasste ihn ein Hochgefühl, wie er es noch nie empfunden hatte.
In dem Moment erklang Christmas’ samtige Stimme: »Guten Abend, New York ...«
47
Los Angeles, 1927
»Ruth, du hast Besuch«, sagte Mr. Bailey. Er hatte bereits an die Tür zur Dunkelkammer geklopft, aber Ruth öffnete nicht.
»Ich komme gleich«, antwortete sie gut gelaunt. Mit den Fotos, die sie gerade entwickelte, war sie sehr zufrieden. Sie zeigten Marion Morrison, einen umjubelten ehemaligen Spieler der berühmten Donnernden Herde, der Footballmannschaft der Universität von Südkalifornien. Er war ein großer, kräftig gebauter junger Mann, der während des gesamten Fototermins nicht ein einziges Mal gelächelt hatte, nicht einmal während der Pausen. Gegenwärtig arbeitete er nur als Requisiteur für die Fox-Studios, aber von Clarence hatte sie gehört, dass einmal ein Star aus ihm werden würde. Winfield Sheehan, der Chef der Fox-Studios, hatte ihm das im Vertrauen erzählt. Ruth war das ziemlich egal. Für sie zählte einzig, dass der junge Mann während des Fototermins nicht ein Mal gelächelt hatte. Sie hatte ihn unter freiem Himmel fotografiert, nicht im Studio. Clarence hatte ihr gesagt, er sei genau der richtige Typ für einen Western, und so hatte Ruth ihn an einem bedeckten Tag auf ein kahles, wüstenähnliches Feld gestellt. Die Fotos waren düster, kontraststark. Marion Morrisons imposante Gestalt stach aus dem Feld hervor. Hände in den Hosentaschen, selbstgefällige Haltung. Doch Ruths Aufnahmen vermittelten noch mehr: den Eindruck tiefer Einsamkeit. Morrison wirkte so verlassen, als wäre er der letzte Mensch auf Erden.
»Ruth, komm jetzt«, sagte Mr. Bailey noch einmal.
»Ja, ich bin sofort fertig«, gab sie zurück und hängte das letzte Foto zum Trocknen auf. »Wer ist es denn?«, fragte sie fröhlich.
»Komm«, antwortete Mr. Bailey nur.
Ruth bemerkte den angespannten Unterton in Clarences Stimme. Sie öffnete das Fenster der Dunkelkammer und verließ den Raum.
»Er wartet in meinem Büro auf dich ...«
Ruth überquerte den Flur und zögerte kurz, ehe sie Clarences Büro betrat. Sie legte die Hand auf die glänzende Messingklinke, drückte sie hinunter und öffnete die Tür.
»Hallo, Schatz«, sagte Mr. Isaacson, der vor dem Schreibtisch stand.
»Hallo, Papa«, antwortete Ruth leise und blieb im Türrahmen stehen.
»Du hast uns schon lange nicht mehr besucht.«
Ruth trat einen Schritt ins Zimmer und schloss die Tür. »Stimmt«, sagte sie. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sollte sie ihren Vater umarmen oder stehen bleiben, als wären sie Fremde? »Wie geht es denn Mama?«, fragte sie schließlich, um das Schweigen zu brechen.
»Sie wartet im Auto«, antwortete Philip Isaacson und wandte den Kopf zum großen Fenster in Clarences Büro, das auf den Venice Boulevard hinausging. »Sie wollte lieber nicht mitkommen ... Es ging ihr nicht gut in letzter Zeit ...«
»Trinkt sie so viel?«, fragte Ruth schroff.
Ohne zu antworten, senkte Philip Isaacson den Blick. »Wir reisen ab.«
»Ihr reist ab? Kehrt ihr zurück nach New York?«
Wehmütig schüttelte Ruths Vater den Kopf. »Nein. Das würde deine Mutter nicht verkraften ...«, sagte er, den Blick noch immer auf den Boden gerichtet. »Wir gehen nach Oakland. Ich habe die Villa in Holmby Hills zu einem Spottpreis verkauft und ein Angebot in Oakland angenommen. Da hat vor Kurzem ein Kino aufgemacht ... Nun, sie brauchten einen Leiter und ich ... Weißt du noch, die Filme nur für Erwachsene? Deine Mutter hatte wie immer recht. Das ist nicht unsere Welt. Die Leute sind zu ungehobelt und vulgär. Ich fühlte mich todunglücklich und außerdem ... Tja, viel Geld war damit auch nicht zu verdienen. In Oakland haben wir nicht weit vom Kino entfernt eine Wohnung gemietet und ... solange es läuft, bleiben wir da.«
Ruth ging einen Schritt auf ihren Vater zu. Dann noch einen und noch einen weiteren. Als sie vor ihm stand, umarmte sie ihn. »Papa. Es tut mir leid.«
Bei der Berührung der Tochter schien Philip Isaacson in sich zusammenzufallen. Seine Augen wurden feucht. Er
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