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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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griff nach einem Taschentuch und schnäuzte sich. In dem Augenblick wurde Ruth die ganze Schwäche dieses Mannes bewusst. Doch sie hasste ihn nicht dafür. Er war ihr Vater. Und er konnte nichts dafür, dass er nicht der Vater war, den eine Tochter sich wünschte. Erneut zog sie ihn an sich und drückte ihn fest. Und dabei verzieh sie ihm, dass er nie imstande gewesen war, der Vater zu sein, den sie gebraucht hätte.
    »Ich bin Fotografin«, erklärte sie, während sie ihn in den Armen hielt, als wäre er ihr Kind und nicht umgekehrt. »Und das verdanke ich nur dir. Danke, Papa. Danke.«
    Da begann Mr. Isaacson zu weinen. Mehrmals hintereinander schluchzte er auf. Als er seine Tochter dann jedoch ansah, lag Stolz in seinen Augen. »Mein tüchtiges Mädchen«, sagte er lachend und weinend zugleich. »Du bist wie mein Vater. Du bist wie Opa Saul.« Er nahm ihr Gesicht in seine Hände. »Du bist stark, Ruth, und tagtäglich danke ich dem Himmel dafür, dass du nicht mir ähnelst. Es wäre schrecklich gewesen, auch noch diese Last tragen zu müssen.«
    »Sag so etwas nicht, Papa«, wehrte Ruth ab und umarmte ihn wieder. »Sag so etwas nicht ...«
    »Komm uns besuchen, wenn du mal in Oakland bist. West Coast Oakland Theater, Telegraph Avenue«, sagte er und löste sich aus der Umarmung. Er griff in die Innentasche seines eleganten Jacketts und zog einen Umschlag heraus. »Das sind fünftausend Dollar. Mehr kann ich dir nicht geben, Schatz«, erklärte er und hielt ihn ihr hin.
    »Die brauche ich nicht, Papa. Ich habe einen guten Job ...«
    »Nimm sie, Ruth. Ich bitte dich. Leute wie wir können ihre Gefühle nur mit Geld zum Ausdruck bringen. Zumindest pflegte dein Großvater das immer zu sagen. Ich bitte dich, nimm es an.«
    Ruth nahm den Umschlag entgegen.
    »Aber ich habe dir auch die Leica geschenkt, nicht wahr?«
    »Sie ist das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe«, sagte Ruth.
    »Da ist noch etwas ...«, fuhr der Vater zögerlich fort. Er schluckte schwer, abermals senkte er den Blick. »Ich wusste nichts davon ...« Er sah Ruth an und lächelte schmerzlich. »Aber vielleicht hätte ich ohnehin nichts dagegen unternommen ...« Nervös drehte er den Ehering an seinem Finger, während er überlegte, ob er fortfahren sollte. »Ich weiß nicht, ob es richtig ist, es dir zu sagen ... Du darfst sie nicht hassen, Ruth. Du darfst sie nicht hassen. Sie hat immer geglaubt, es wäre zu deinem Besten ...«
    »Was denn, Papa? Wer?«
    »Deine Mutter, Ruth ... Ich wusste nichts davon, aber in der letzten Zeit, seit du nicht mehr da bist, ist es so, dass ... sie viel redet, weißt du ... Der Alkohol ... und ...«
    »Papa«, warf Ruth drängend ein.
    »Dieser Junge, der dich gerettet hat ...«
    »Christmas ...?«
    »Dieser Junge hat dir ... viele Briefe geschrieben. Ins Beverly Hills und später nach Holmby Hills. Und deine Mutter ... deine Mutter hat verhindert, dass du sie bekommst. Und auch die Briefe, die du ihm geschrieben hast ... hat sie alle zerrissen.«
    Ruth war sprachlos. Sie fühlte sich so atemlos, als hätte ihr jemand in den Magen geboxt.
    »Du darfst sie nicht hassen, Ruth ... Sie glaubte, es wäre zu deinem Besten ...«
    »Ja ...«, murmelte Ruth. Sie wandte sich von ihrem Vater ab, ging zum Fenster und blickte hinaus auf die Straße. Auf der anderen Straßenseite stand ein braunes Auto. Und ihr war, als sähe sie hinter der Windschutzscheibe auf dem Beifahrersitz ein metallisches Schimmern. Das Schimmern eines Flachmanns.
    Als sie sich umdrehte, hatte der Vater das Zimmer bereits verlassen.

48
    Manhattan, 1927
    »Ihr seid entlassen«, sagte Neal Howe, der Intendant von N. Y. Broadcast. Er saß an seinem intarsienverzierten Kirschholzschreibtisch und polierte mit einem blütenweißen Leinentaschentuch, auf dem seine Initialen prangten, seine runden Brillengläser. Sein hageres Gesicht war von dünnen Äderchen durchzogen, die ein zartes Spinnennetz auf seinen Wangen bildeten. Seine Kopfhaut war unter dem schütteren Haar gerötet. Er trug einen maßgeschneiderten, faltenfrei aufgebügelten grauen Anzug mit Militärabzeichen am Revers. Als er die Brille für blank genug befand, setzte er sie auf und musterte Christmas und Karl, die vor ihm standen. »Ihr fragt euch sicher, warum ich mir die Mühe mache, euch das persönlich mitzuteilen«, sagte er mit einem feindseligen Grinsen. Drohend streckte er ihnen einen dürren Finger mit spitzem Nagel entgegen. »Wären wir im Krieg, würde man das, was ihr getan

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