Der Junge, der Träume schenkte
verdorbene Jugend, New York und Los Angeles, seine Opfer und seine Hoffnungen, seine Armut und sein Reichtum, der Vierzig-Dollar-Pritschenwagen, auf dem er Ruth vergewaltigt hatte, und sein pfeilschneller LaSalle, sein Gesicht und die Punisher-Maske, die Angst vor dem Vater und die vor dem elektrischen Stuhl, seine Träume und Albträume, all das bildete einen einzigen Sumpf aus düsterem, beängstigendem Treibsand, der ihn in eine Dunkelheit hinabzog, die noch dunkler war als die nicht enden wollende Nacht, und der im Morgengrauen keine Helligkeit durchließ, sondern ihn in der schlammigen Finsternis gefangen hielt, die alles war, was Bill blieb. Sein Erbe.
Bill hatte die Tür zum Wahnsinn aufgestoßen.
56
Manhattan, 1928
»Das Mikrofon hier ist der letzte Dreck«, schimpfte Christmas, der am geheimen Übertragungsort von CKC saß und nervös auf die Uhr schaute.
»Was ist damit?«, fragte Cyril.
Christmas gab keine Antwort. Abermals schaute er auf die Uhr. Zwanzig nach sieben. Nur noch zehn Minuten bis zur Livesendung. Und noch immer ließ der Gast sich nicht blicken. Karl und Cyril würden Augen machen, wenn er vor ihnen stand. Doch Groll und Ungläubigkeit, die in seinem Inneren gärten, seitdem er von Karls Verrat wusste, verdarben Christmas die Vorfreude auf den Moment. Karl der Verräter. Karl der Scheißkerl. Nun aber war auch seine, Christmas’, Zeit gekommen. Eine ganze Woche lang hatte er seine Wut genährt, ohne dass ihm auch nur ein einziges Wort entschlüpft war. Nun war die Stunde der Abrechnung da. In einem Anfall von Hysterie zerlegte er das Mikrofon und wühlte in einer Schublade herum.
Karl beobachtete ihn mit finsterer Miene.
»Wonach suchst du?«, fragte Cyril geduldig.
Wieder gab Christmas keine Antwort. Leise fluchend warf er mit Kabeln und Bolzen um sich. Dann schaute er ein weiteres Mal auf die Uhr.
»Was stimmt denn nicht mit dem Mikrofon?«, wollte Cyril wissen und untersuchte es.
Christmas drehte sich um und riss es ihm schroff aus der Hand. »Es ist Schrott, keinen Cent wert«, murrte er.
»Er hat recht, Cyril. Für einen Star wie ihn ist nur das Beste gut genug«, bemerkte Karl mit sarkastischem Unterton.
Düster starrte Christmas ihn an.
Karl erwiderte den Blick unbeirrt, bevor er sich zum Fenster wandte und den schwarzen Stoff zur Seite zog, um einen Blick hinauszuwerfen.
»Mach den Vorhang zu!«, befahl Christmas. »Licht stört mich, das weißt du doch.«
»Dich stört in letzter Zeit so einiges«, gab Karl zurück, wandte sich aber vom Fenster ab.
»Ja, da hast du recht«, sagte Christmas unwirsch. »Und ganz oben auf der Liste stehst du.«
»Darf man vielleicht erfahren, was mit euch los ist?«, mischte sich Cyril ein und stand auf, um sich wie zufällig zwischen die beiden zu stellen. »Es sind keine zehn Minuten mehr. Besser, wir beruhigen uns wieder. Liegt es am Ruhm, dass ihr euch streitet wie zwei hysterische Waschweiber?« Er lachte kopfschüttelnd.
»Wenn einer aus dem Nichts kommt, bildet er sich schon auf wenig wer weiß was ein«, sagte Karl und sah Christmas herausfordernd ins Gesicht.
»Und wenn einer vor den Bossen kriecht, verkauft er Menschen, als wären es Nägel aus seinem dämlichen Eisenwarenladen. Zum Kilopreis«, stieß Christmas zornig hervor.
Cyril blickte bestürzt von einem zum anderen. »Würdet ihr mir bitte erklären, was zum Teufel hier los ist?« Er sah auf die Uhr. »Aber macht schnell, ich gehe nämlich in acht Minuten auf Sendung.«
Christmas lachte kalt. »Na los, Karl. Erklär allen, die uns zuhören, dass du uns verscherbeln willst.«
»Du bist jämmerlich«, bemerkte Karl mit einem Kopfschütteln. »Sei wenigstens Manns genug, es zuzugeben.«
»Was?«, fragte Cyril misstrauisch.
»Der Junge verkauft sich an die Großen. Mich, dich und den ganzen Laden hier lässt er einfach im Stich. Er hat beschlossen, hoch zu fliegen. Zum Teufel mit denen, die an ihn geglaubt haben«, sagte Karl verächtlich.
»Nette kleine Geschichte.« Mit dem Finger auf Karl zeigend, wandte Christmas sich an Cyril. Seine Stimme zitterte vor Wut. »Weißt du, was er so treibt? Er war bei den hohen Tieren von N. Y. Broadcast, um unseren Laden für einen Schreibtischplatz an der Sonne zu verschleudern!«
»Was redest du denn da?«, rief Karl aufgebracht und packte ihn am Kragen.
»Was redest du da!«, schrie Christmas und riss sich von ihm los.
»Hört auf damit.« Cyrils Stimme, die wie ein Knurren klang, löste eine gespannte Stille im Raum aus,
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