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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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am entgegengesetzten Ende des Blocks. Doch dabei blickte er fortwährend zurück. Wenn sie nun das Haus betrat, während er sich auf der Suche nach ihr entfernte? Noch einmal schaute er sich um, bevor er zurückging und sich neben dem Hauseingang an die Wand lehnte, ohne auch nur einen Moment den Blick vom Gehweg zu nehmen.
    Und was, wenn sie in Begleitung eines Mannes kam? Wenn sie nicht allein war? Was würde er tun? Christmas schlug mit der Faust gegen die Wand. Nun gut, wenn es einen anderen gab, würde er es immerhin sofort erfahren. Wenn sie ihn nicht mehr sehen wollte, würde sie es ihm sofort sagen. Er knöpfte den obersten Hemdknopf auf, zog die Jacke aus und warf sie sich über die Schulter. Mayers Vertrag raschelte in der Tasche. Du kannst mich mal, Mayer!, dachte er, mit einem Mal zornig. Von jetzt auf gleich verwandelte sich die Anspannung des Wartens in Wut. Und er dachte daran, dass Ruth auf keinen einzigen seiner Briefe geantwortet hatte. Dass sie ihn aus ihrem Leben ausradiert, abgewiesen hatte. Nach dem Versprechen, das sie einander gegeben hatten, hatte sie ihn vergessen. Und plötzlich redete er sich ein, Ruth habe einen anderen, es sei dumm von ihm gewesen, den Alten in der Fotoagentur nicht danach zu fragen, ob es einen Mann in ihrem Leben gab. Dann wüsste er nun Bescheid, könnte gehen und Ruth und alle Welt zum Teufel wünschen ...
    Während die Wut ihm Seele und Herz in Brand setzte und ihm die Röte ins Gesicht trieb, wandte er den Blick nach links. Und da – ganz hinten, im Gedränge von Los Angeles – sah er sie.
    Langsam, ohne Eile, kam sie näher. Sie trug ein lila Kleid, das knapp ihre Knie bedeckte, und eine große Schultertasche. Ihr Haar war kürzer geschnitten als früher. Mit gesenktem Kopf kramte sie in der Tasche. Wie wunderschön sie ist, dachte Christmas, noch schöner als bei ihrer Abreise. Jetzt ist sie eine Frau. Und sie ist wunderschön, dachte er immer wieder, während ein ungeheures Glücksgefühl ihn zu überwältigen drohte. Und mit einem Mal war es ihm egal, ob sie nie auf seine Briefe geantwortet hatte, es war ihm egal, ob sie einen anderen hatte. Sie war Ruth, seine Ruth. Er hatte sie gefunden.
    Nachdem sie den ganzen Tag auf den Straßen unterwegs gewesen war und das Leben fotografiert hatte, das sie gerade zu akzeptieren lernte, waren Ruths Schritte träge. Sie kramte in ihrer Tasche nach dem Hausschlüssel. Ich müsste darin endlich einmal wieder Ordnung schaffen, sagte sie sich. Endlich hörte sie die Schlüssel klimpern. Sie griff danach und hob lächelnd den Blick.
    Ihr Lächeln gefror schlagartig. War er das wirklich, oder war es wieder nur einer, der ihm irgendwie ähnlich sah, einer von vielen, die sie in den vergangenen Jahren fälschlicherweise für ihn gehalten hatte? War er es wirklich, oder war es nur eine Illusion, eine irrsinnige Hoffnung, die sie trog? Ruth wurde schwindlig. Angestrengt sah sie genauer hin, studierte jedes Detail und verglich es mit ihren Erinnerungen. Und schließlich brach ein unkontrollierbarer Gefühlssturm über sie herein, der ihr den Atem nahm. Ja, dort stand er, mitten auf dem Bürgersteig. Wenige Schritte vor dem Eingang zum Haus 1305 Venice Boulevard. Und er verstellte ihr den Weg und sah sie an. Selbst wenn sie es gewollt hätte – sie hätte nicht weglaufen, sich nicht verstecken können. Ruth gelang es nicht, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Ihre Beine waren wie versteinert. Sie bekam keine Luft, wie damals, als sie die straffen Verbände angelegt hatte, um ihre Brust zu verbergen. Ihr Herz schlug wie wild und so laut, dass die Passanten ringsum es hören mussten. Und alles nur, weil er dort stand. Ihretwegen dort stand.
    Christmas erwartete sie. Doch Ruth rührte sich immer noch nicht. Reglos und mit herabhängenden Armen stand sie etwa zehn Schritte von ihm entfernt da und sah ihn mit ihren grünen Augen an.
    Auch Christmas war nicht imstande, sich zu rühren. Nun, da nur noch zehn Schritte sie voneinander trennten, war er nicht imstande, sich zu bewegen. Sein Kopf brummte, der Atem stockte ihm. Er spürte ein Brennen in den Augen, verbot sich jedoch zu blinzeln. Als befürchtete er, Ruth könnte während dieses einen Wimpernschlages verschwinden. Und diese Furcht setzte ihn endlich in Bewegung. Ein Schritt, dann ein zweiter. Und schließlich stand er dicht vor ihr.
    Schweigend sah Christmas sie an. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
    Und auch Ruth brachte kein einziges Wort über die Lippen. Sie

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