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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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Schultern, die sich krümmten, um all diese Last auf sich zu nehmen.
    In dem Moment wusste Ruth, dass sie auch Daniel anlügen würde.
    Sie zog sich an, griff nach ihrer schwarzen Tasche, öffnete die Zimmertür einen Spaltbreit und lauschte. Noch immer lag Stille über dem Haus der Slaters. Sie träumten die Träume einer glücklichen Familie.
    Leise schlich Ruth die Treppe hinunter, öffnete die Tür zum Garten und stahl sich hinaus.
    Schon wieder laufe ich davon, dachte sie, aber sie blieb nicht stehen.
    »Ruth wird hierher zurückkommen. Das ist ihr Zuhause«, hatte Clarence ihm versichert.
    So hatte Christmas die Nacht im Auto verbracht, vor dem Hauseingang am Venice Boulevard. Schlaflos, denn er durfte sie nicht verpassen. Er musste wissen, warum sie weggelaufen war.
    Nun aber, im Licht der aufgehenden Sonne, brannten ihm die Augen, und sein Kopf wurde langsam schwer. Du darfst nicht einschlafen, ermahnte er sich. Doch die Lider fielen ihm zu, und die Gedanken drifteten ab. Er blickte die Straße hinunter und sah Ruth um die Ecke biegen. Sie trug ein lila Kleid und eine schwarze Schultertasche. Da ging er ihr entgegen. Wann war das gewesen? Nur einen Tag zuvor. Ihm aber kam es vor wie eine von der Zeit verblasste Erinnerung. Als wären seitdem tausend Jahre, ja ein ganzes Leben vergangen.
    Christmas schloss die Augen. Nur ganz kurz, dachte er.
    Ein Gefühl von Schwindel überkam ihn. Schlagartig riss er die Augen auf, um das Gleichgewicht wiederzufinden. Er klammerte sich am Lenkrad fest und klimperte mit den Lidern. Und wieder glaubte er, Ruth zu sehen, wie sie im Gegenlicht um die Ecke bog mit ihrem lila Kleid und den kurzen schwarzen Haaren. Sie war wunderschön. Und dann blieb sie stehen und erkannte ihn. Christmas schloss die Augen. Ihm war, als hörte er ihre leichten Schritte auf dem Gehweg. Er lächelte, während er sich dem schläfrigen Schwindelgefühl hingab. Ruth rannte jetzt. Aber sie rannte nicht auf ihn zu. Sie rannte in die entgegengesetzte Richtung. Sie lief davon.
    »Ruth ...«, murmelte Christmas, schon halb im Schlaf, der übermächtig wurde und ihn in seinem Albtraum festhielt.
    Da holte er schnaubend tief Luft, als hätte er zu lange den Atem angehalten. Er riss die Augen auf. Abermals blickte er die Straße hinunter. Sie war menschenleer. Christmas öffnete die Tür und stieg aus. Aus dem Café gegenüber wehte frischer Kaffeeduft herüber. Schwerfällig überquerte er die Straße und betrat das Lokal. Und da, an einem Tisch ganz hinten im Raum, sah er Ruth. Und neben ihr saß ein Mann mit blonden Haaren. Der junge Mann wandte den Blick und lächelte ihm zu. Das war er selbst. Der Christmas, den es nicht mehr gab. Der Christmas des vorigen Tages, des ganzen vorigen Lebens. Er spürte, wie die Beine unter ihm nachzugeben drohten.
    »Ist alles in Ordnung?«, fragte die Kellnerin, die hinter dem Tresen stand.
    Christmas wandte sich um und brauchte eine Weile, um sie klar zu erkennen. Dann blickte er zurück zum Tisch in der Ecke. Eine zahnlose alte Frau stopfte sich ein Stück Blaubeerkuchen in den Mund. Die Fruchtfüllung rann ihr über das Kinn.
    »Kaffee«, sagte Christmas und stützte sich schwankend auf den Tresen.
    »Ist alles in Ordnung?«, fragte die Kellnerin erneut.
    Geistesabwesend sah Christmas sie an. »Kaffee.«
    Während die Kellnerin eine dicke weiße Porzellantasse füllte, schaute Christmas zum Fenster hinaus auf den Hauseingang, den Ruth früher oder später betreten würde. Gleich daneben parkte der Oakland. Die Fenster warfen das Sonnenlicht zurück und wirkten wie glänzende Spiegel.
    »Bitte schön, Ihr Kaffee«, sagte die Kellnerin. »Möchten Sie etwas essen?«
    Ohne zu antworten, hob Christmas die Tasse an den Mund und nahm einen Schluck. Der Kaffee war glühend heiß und verbrannte ihm den Gaumen. Er stellte die Tasse ab und suchte in seiner Tasche nach etwas Kleingeld, um zu bezahlen. Dabei stieß er auf ein Blatt Papier. Er zog es heraus, faltete es auseinander und warf einen Blick darauf. Es war Mayers Vertrag. Den hatte er völlig vergessen. Auch das lag eine Ewigkeit zurück. Christmas breitete das Schriftstück auf dem Tresen aus und strich es glatt. Langsam, mühevoll las er den Vertrag durch und versuchte, sich an die Freude zu erinnern, die er über das Schreiben empfunden hatte. Er versuchte, das elektrisierende Gefühl wieder aufleben zu lassen, das ihn ergriffen hatte, als er seine Geschichte nach und nach auf dem Papier hatte entstehen sehen, er

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