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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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... er hat Sachen ... hereingetragen«, stammelte der Portier verlegen. »Also, ich meine ... er hat nichts weggetragen ... er hat etwas hereingetragen und ich ...«
    »Es war gut, dass du ihm aufgemacht hast, Neil«, unterbrach ihn Christmas. Daraufhin wandte er sich an den Liftboy. »Elfter Stock.«
    »Ich weiß, Sir«, sagte der Junge lächelnd, als er das Gitter zuzog. »Ich höre immer Diamond Dogs . Morgen geht es wieder los, oder?«
    Christmas sah ihn schweigend an, während der Aufzug nach oben surrte. Zwei Wochen waren vergangen, und sein vorheriges Leben kam ihm fern, geradezu fremd vor. Als wäre es das Leben eines anderen.
    »Um halb acht?«, fragte der Liftboy.
    »Wie?«
    »Sie gehen um halb acht auf Sendung, wie immer, oder?«
    »Ach so, ja ...«, antwortete Christmas und fragte sich, wie er es schaffen sollte, mit der gleichen Begeisterung wie zuvor zu sprechen. Er fragte sich, wie er es schaffen sollte, nicht an Ruth zu denken. Nun, da das Band zwischen ihnen noch stärker geworden war und er endgültig ihr gehörte. Nun, da er sie verloren hatte. »Ja, um halb acht ... wie immer.«
    Ruckelnd hielt der Aufzug an. Der Junge öffnete das Gitter. Mit dem Koffer in der Hand trat Christmas hinaus und näherte sich mit müden Schritten seinem Apartment.
    »Gute Nacht, New York«, verabschiedete ihn der Liftboy.
    Christmas wandte sich nach ihm um. Schwach lächelnd nickte er ihm zu, während er den Schlüssel aus der Tasche zog.
    Den Koffer ließ Christmas im Eingang stehen und ging durch die leere Wohnung hinüber zum Fenster, das auf den Central Park hinauszeigte.
    Und genau vor dem Fenster, von dem aus er die Parkbank sehen konnte, entdeckte er einen Schreibtisch aus amerikanischem Nussbaumholz und einen Drehsessel. Und auf dem Tisch eine Schreibmaschine. Langsam trat er näher. In die Underwood Standard Portable war ein Blatt Papier eingespannt.
    Deine Mutter hat mir erzählt, dass Du Deinen Unsinn jetzt aufschreibst , las er auf dem Blatt. Aber wie zum Teufel willst Du das machen, wenn Du keine Schreibmaschine und keinen Schreibtisch hast, Hosenscheißer?
    Christmas lächelte, setzte sich in den Drehsessel und las weiter.
    Der Schreibtisch hat einmal Jack London gehört. Und nur deshalb wollte der Kerl, der ihn verkauft hat, fünfhundert Dollar dafür. Verfluchter Dieb. Am Ende hat er ihn mir geschenkt.
    Christmas strich mit der Hand über die Holzplatte. Er musste lachen. Der Schreibtisch war gestohlen. Dann schweifte sein Blick vom Blatt in die Ferne und traf auf die Bank, auf der er mit Ruth gesessen und gelacht und geredet hatte. In einem anderen Leben. Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und ließ den Kopf in die Hände sinken. Einem Leben, das nach einer wunderschönen, vollkommenen Liebesnacht nicht mehr existierte. Nach sechs Jahren des Wartens. Christmas stand auf und riss das Fenster auf. Aus der Tiefe drang das Brummen der Autos zu ihm herauf.
    Still betrachtete Christmas den Park mit seinen Wiesen, Bäumen, Seen und dahinter die gesamte Stadt. »Guten Abend, New York ...«, sagte er leise, ohne Überzeugung.
    Er ging ins Bad, wusch sich und zog sich frische Sachen an. Dann verließ er das Haus und spazierte ohne Eile los. Er durchquerte den Park, bog von dort in die 7th Avenue ein und ging weiter in Richtung Norden.
    Nachdem Ruth ihn gebeten hatte, sie nicht zu suchen, war Christmas in das Haus zurückgekehrt, das Mayer ihm überlassen hatte. Er hatte sich ins Bett gelegt, in dem Ruth und er sich geliebt hatten, und den ganzen Tag lang ihren Duft geatmet, bis er sich schließlich verflüchtigt hatte. Christmas hatte an nichts gedacht; er hatte sie nur geatmet. Nachdem er den Tag im Bett verbrachte hatte, hielt er es schließlich nicht mehr aus, griff zum Telefon, rief bei Wonderful Photos an und sprach mit Mr. Bailey.
    »Ist sie weg?«, fragte er den alten Agenten.
    »Ja.«
    »Und wohin wollte sie?«
    Stille am anderen Ende der Leitung. »Ruth hat mir erklärt, ihr hättet eine Abmachung getroffen«, sagte Clarence schließlich.
    »Ja ...«
    »Aber sie war nicht sicher, ob Sie sich daran halten würden.«
    Christmas glaubte, ein gewisses Bedauern in Mr. Baileys Stimme zu hören. »Aber Sie wissen, wohin sie wollte, oder?«
    Wieder antwortete ihm Stille, bevor mit einem klick die Verbindung beendet wurde.
    Christmas legte sich erneut ins Bett und vergrub die Nase im Kissen, über das sich Ruths schwarzes Haar ausgebreitet hatte. Aber es roch nur noch nach Baumwolle. Ruth war verschwunden,

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