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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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versuchte, sich an das Hämmern der Schreibmaschinentasten, an das Drehgeräusch der Walze, an das Rascheln des Papiers zu erinnern. Er las die Summe, die MGM für seine Geschichten zu zahlen bereit war. Aber das alles schien ihm nun wie aus einem anderen Leben, sinnlos. Er steckte den Vertrag wieder ein, trank den Kaffee aus, ließ, ohne nachzuzählen, eine Hand voll Münzen auf dem Tresen liegen und ging, nachdem er einen erneuten Blick hinüber zu Ruths Haustür geworfen hatte, in den Waschraum. Mit kaltem Wasser wusch er sich das Gesicht und schaute in den Spiegel. Eine ganze Weile betrachtete er sich. Er fühlte sich in einem seltsamen Schwebezustand gefangen. Es war, als wäre er gar nicht da, nicht lebendig.
    Christmas verließ den Waschraum und machte sich auf den Weg zum Auto. Im Näherkommen sah er sein Spiegelbild in den sonnengefluteten Fensterscheiben. Zerknitterter Anzug, müder Gang, gebeugte Schultern. Er umfasste den Türgriff. Sein Blick ging nach oben zu den Fenstern der Fotoagentur. Sie waren noch immer geschlossen. Da sah er hinüber zu der Straße, aus der Ruth kommen musste. Niemand. Er öffnete die Wagentür und stieg ein.
    »Ich wusste, ich würde dich hier finden.«
    Entgeistert riss Christmas die Augen auf. »Ruth ...«
    Sie saß auf der dem Gehweg zugewandten Beifahrerseite. »Ich habe dich im Café gesehen«, sagte sie.
    »Ich habe auf dich gewartet«, entgegnete Christmas.
    »Ja, ich weiß.«
    Schweigend sahen sie sich an, einander nah und doch fern.
    Behutsam und zärtlich ergriff Christmas ihre Hand. »Warum?«, fragte er.
    »Es ist nicht deine Schuld«, sagte Ruth und verschränkte dabei ihre Finger mit seinen.
    Christmas hatte den Blick gesenkt und betrachtete Ruths Hand, die in seiner lag. »Warum?«
    »Ich bin verdorben«, antwortete Ruth und wandte den Kopf zum Fenster. »Es könnte für uns nie eine Zukunft geben ...«
    »Das ist nicht wahr«, widersprach er ungestüm. Er gab nicht auf, drückte ihre Hand. »Das ist nicht wahr, Ruth.«
    Sie saß reglos da und starrte noch immer durch die Scheibe ins Nichts.
    »Wir können es schaffen«, sagte Christmas. »Wir müssen.«
    »Nein, Christmas. Ich bin nicht wie die anderen, ich habe keine Zukunft wie andere Frauen.« Ruths Stimme war leise, verzweifelt und beherrscht. »Ich bin verdorben.«
    »Ruth ...«
    »Es ist nicht deine Schuld.«
    Christmas drückte ihre Hand. »Sieh mich an«, sagte er.
    Ruth wandte den Kopf.
    »Liebst du mich?«, fragte Christmas.
    »Warum sollte das wichtig sein?«
    »Für mich ist es wichtig.«
    Ruth schwieg.
    »Ich muss es von dir hören. Das schuldest du mir, Ruth.«
    Sie entzog Christmas die Hand und öffnete die Tür. »Schwör mir, dass du mich nicht suchen wirst«, sagte sie.
    Christmas schüttelte den Kopf. »Das kannst du nicht von mir verlangen.«
    Ruth sah ihn eindringlich an, als versuchte sie, sich sein Gesicht für alle Ewigkeit einzuprägen. »Vielleicht werde ich eines Tages bereit sein. Und dann werde ich dich suchen. Dieses Mal bin ich an der Reihe.«
    Christmas griff nach ihrer Hand, doch Ruth stieg aus dem Wagen aus.
    »Ich gehe weg. Ich weiß nicht, wohin«, sagte sie unerwartet kühl und mit einer Hast, die ihren ganzen Schmerz verriet. »Warte nicht auf mich.«
    »Ich werde auf dich warten.«
    »Warte nicht auf mich.« Damit verschwand sie im Hauseingang.

65
    Manhattan, 1928
    »Endlich, Sir ...«, sagte der Portier des Apartmenthauses am Central Park West, als er Christmas sah, und kam ihm aufgeregt entgegen. »Ich wollte die Polizei rufen, aber dann ... Nun ja, ich wusste nicht, was ich tun sollte ...«
    »Was ist passiert, Neil?«, fragte Christmas finster und zerstreut.
    »Also, die Sache ist nicht ganz ordnungsgemäß ...«, erklärte der Portier, bückte sich nach Christmas’ Koffer und ging mit ihm gemeinsam zum Aufzug. »Ein Mann ...«
    »Neil, ich komme gerade aus Los Angeles und habe ziemlich schlechte Laune«, knurrte Christmas, riss ihm den Koffer aus der Hand und stieg in den Aufzug. »Was ist passiert?«
    »Ein Mann hat mich gezwungen, Ihre Wohnung aufzuschließen«, stieß der Portier hervor.
    »Was für ein Mann?«
    »Ich weiß nicht, wie er heißt. Er war groß und kräftig und hatte riesige schwarze Hände ...«
    Christmas grinste unmerklich. »Und wie hat er dich gezwungen?«
    »Er hat gedroht, mir ins Knie zu schießen!«
    »Und du hast ihm geglaubt?«
    »Oh ja, Sir. Wenn Sie ihn gesehen hätten ... der hatte eine Stimme ...«
    Christmas nickte.
    »Na jedenfalls

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