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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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noch einmal um. Und aus seinen Augen sprach etwas Animalisches, etwas, was ihrer eigenen Angst sehr ähnlich war. Und da geschah das Wunder: In Bills Angst löste sich ihre eigene Angst auf.
    In diesem Moment bemerkte Ruth den Schweiß auf ihrer Haut, ein hauchdünner, eiskalter Schleier. Wie Tau der Angst. Langsam aber kehrte die Wärme in ihren Körper zurück. Ruth ließ Barrymores Ärmel los. Sie spürte, wie wieder Blut durch ihre Adern strömte, und holte lang und kraftvoll Luft. Bill war geflohen. Nun war er es, der Angst hatte. Angst vor ihr.
    Ruth lächelte kaum merklich, es war nicht mehr als ein Kräuseln der Lippen, die in Erinnerung an die Angst noch immer zitterten. Und während sich das Lächeln auf ihren Lippen ausbreitete und auf die Augen übersprang, war die Angst endlich vergessen. Als hätte es sie nie gegeben. Als hätte Bill sie restlos mit sich fortgenommen. Ruth spürte, dass sie das Ziel ihres Laufs erreicht hatte. Es war an der Zeit, dass die Uhren sich weiterdrehten.
    Sie war in einem Fotogramm gefangen gewesen, erkannte sie nun. Und sie hatte auch Bill in diesem Fotogramm gefangen. Ihr Leben war an einem Abend vor mehr als sechs Jahren erstarrt.
    Nun aber bin ich nicht mehr ich. Und du bist nun nicht mehr du, dachte sie, verblüfft, wie simpel der Gedanke war.
    Mit einer neuen Leichtigkeit im Herzen wandte sie sich an Barrymore. »Ich muss gehen«, flüsterte sie ihm ins Ohr und trat dann zu Clarence. Sie bat ihn, sie nach Hause zu fahren. Daraufhin hakte sie sich bei dem alten Herrn ein und machte sich mit ihm auf den Weg zum Ausgang.
    Die Luft war kühl und klar, der Himmel sternenbedeckt.
    »Der Wagen steht dort drüben«, sagte Clarence und deutete die lange Allee hinunter.
    Ruth war, als sähe sie einen Mann in einem hellen Anzug und einem leuchtend roten Hemd zwischen den Autos hindurchlaufen, auf halbem Weg stehen bleiben, sich umsehen und dann weiterrennen. Vielleicht war er auch gestürzt. Doch Ruth achtete nicht auf ihn. Sie kannte den Mann nicht. Sie kannte ihn nicht mehr.
    Ruth stieg lächelnd die Stufen hinab. Ich gehöre dir nicht mehr, dachte sie. Das Lächeln stieß die Käfigtür auf. Leb wohl, Bill.
    Bill strauchelte, schlug hin, stand wieder auf.
    Sein LaSalle war von Dutzenden anderer Wagen zugeparkt.
    »Müssen Sie fahren, mein Herr?«, sprach ihn ein Diener an. »Wenn Sie mir zehn Minuten geben, hole ich Ihr Auto für Sie raus.«
    Bill stieß ihn zur Seite. »Verpiss dich«, blaffte er. Er hatte keine zehn Minuten. Keine zehn Sekunde hatte er.
    Er drehte sich nach der Villa um. Ruth stand vor dem Eingang und blickte in seine Richtung. Sie hatte ihn entdeckt. Neben ihr sah Bill einen älteren Herrn. Mit Sicherheit ein Polizist. Der Polizist hatte den Arm gehoben und zeigte auf ihn, Bill, und Ruth lachte.
    Da stürzte Bill auf das Tor zu. Er musste fliehen. Er würde nicht zulassen, dass sie ihn schnappten. Während er taumelnd zwischen den parkenden Autos hindurch davonrannte, blickte er sich erneut um.
    Ruth kam zusammen mit dem Polizisten die Treppe herunter. Sie hatten keine Eile. Sie spielten mit ihm. Er saß im Käfig. Und der Käfig war nun versperrt. Bill glaubte, das Gehirn müsse ihm zerspringen. Er sah grelle Lichter, dann Dunkelheit, dann wieder Lichter. Der viele Alkohol lähmte seine Beine, doch er schaffte es weiterzulaufen. Bis zum Tor war es nicht mehr weit. Aber was sollte er tun, wenn er den Sunset Boulevard erreicht hatte? Zu Fuß hatte er keine Chance. Sie würden ihn schnappen. Er warf einen Blick über die Schulter zurück. Erneut zeigte der Polizist auf ihn. Der Diener drehte sich daraufhin um und wies ebenfalls mit der Hand auf ihn. Und Ruth lachte. Sie lachte ihn aus.
    Bill versteckte sich hinter einem Busch. Während er wieder zu Atem kam, schaute er sich um. Hätte er doch bloß noch etwas Kokain, nur eine Dosis, und sie würden ihn nicht erwischen! Damit würde er aufs Neue unbesiegbar sein. Er griff in seine Tasche. Da war etwas. Er zog die Hand heraus. Die Fingerkuppe bedeckte ein Hauch weißen Pulvers. Eines der Fläschchen musste aufgegangen sein. Er zog die Jacke aus und leerte die Tasche in seine Hand. Viel war es nicht, aber es genügte. Bill lachte. Dann legte er die Finger an die Nase und schnupfte so kräftig, wie er konnte. Ein bitterer Geschmack breitete sich in seinem Rachen aus. Er sog an der Tasche. Wieder lachte er. Fest biss er sich auf die Lippe. Er spürte Blut, aber keinen Schmerz. Ja, ich bin noch immer unbesiegbar,

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