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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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für uns behalten.«
    »Warum hast du es mir erzählt, Tonia?«
    »Weil ich alt bin. Und immer weniger Kraft habe.«
    Cetta blickte auf Tonias Hand. Langsam und unwillkürlich strich ihr Daumen über das Gesicht des toten Sohnes, mit dem gleichen geistesabwesenden Geschick, mit dem die alten Frauen in Aspromonte den Rosenkranz beteten.
    »Warum gerade mir?«, hakte sie nach.
    Tonia ließ von dem Foto ab, legte ihre raue Hand an Cettas Wange und streichelte sie. »Weil auch du Sal vergeben musst.«
    In der Nacht fand Cetta keinen Schlaf. Sie hielt Christmas eng umschlungen und betete, dass aus ihm nicht auch so ein Junge in einem zu grellen Anzug werden möge.
    Noch vor Neujahr starb Tonia. Eines Morgens brach sie urplötzlich zusammen. Vito war nicht zu Hause, er hatte sich mit anderen alten Männern zum Kartenspielen getroffen. Cetta sah sie taumeln. Kurz zuvor noch hatte Tonia Christmas auf dem Arm gehabt. Doch dann hatte sie ihn Cetta zurückgegeben und sich mit der Hand Luft zugefächelt. »Du meine Güte, Hitzewallungen, und das in meinem Alter!«, hatte sie lächelnd gesagt. Aber Cetta hatte die Sorge in ihrem Blick bemerkt. Von einer Sekunde auf die nächste war Tonia dann zu Boden gesunken. Ohne einen Laut. Aus ihrem Körper war einfach alle Kraft gewichen. Heftig war ihr Kopf auf dem Fußboden aufgeschlagen, ihre Beine hatten gezittert und gezuckt, bevor sie schließlich erstarrt waren.
    Cetta stand regungslos da und sah sie an. Tonias Rock war hochgerutscht und enthüllte in ungehöriger Weise, wie Cetta fand, oberhalb der dunklen Strümpfe von Krampfadern durchzogene weiße Beine.
    Christmas weinte und wollte sich gar nicht beruhigen.
    »Schluss jetzt!«, schrie Cetta ihn an.
    Da hörte er auf zu weinen.
    Cetta setzte ihn auf den Boden und versuchte, Tonia hochzuheben, doch sie war zu schwer. Sie drehte sie auf den Rücken und richtete ihren Rock. Anschließend faltete sie ihr die Hände auf der Brust, strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und wischte einen dünnen Speichelfaden fort, der ihr aus dem Mund lief.
    Als Vito nach Hause kam, sah er Cetta auf dem Boden sitzen, während Christmas mit einem Knopf an Tonias Kleid spielte.
    »Opa«, rief Christmas und zeigte mit dem Finger auf den alten Mann.
    Vito sagte nichts. Er nahm nur seinen Hut ab und hielt ihn in der Hand. Dann bekreuzigte er sich.
    Um die Beerdigung kümmerte sich Sal. Auch um den Sarg. Zudem kaufte er Vito und Cetta etwas Schwarzes zum Anziehen und ein Trauerband, das sie Christmas um den Arm legten. In der Kirche weinte niemand. Außer ihnen war nur Signora Santacroce gekommen, die Einzige, zu der Tonia einen freundschaftlichen Kontakt gepflegt hatte.
    In jener Nacht hörte Cetta Vito leise und unterdrückt weinen, voller Würde, als schämte er sich seines unermesslichen Schmerzes.
    Cetta stand auf und legte sich mit Christmas zu dem alten Mann in das große Bett. Vito sagte nichts. Doch nach einer Weile schlief er ein. Und im Schlaf streckte er eine Hand nach Cetta aus und fasste ihr an den Po. Cetta ließ ihn gewähren. Sie wusste, dass er in diesem Moment nicht sie, sondern seine Frau berührte.
    Am nächsten Morgen erwachte Vito trotz seines unermesslichen Kummers mit einem kleinen Glücksgefühl. »Ich hatte einen schönen Traum«, erzählte er Cetta. »Ich war wieder jung.«
    Und Nacht für Nacht weinte er leise, noch leiser nun, da Cetta dauerhaft im Ehebett schlief, und wenn er dann kurz davor war einzuschlafen, fasste er ihr an den Po.
    Kaum einen Monat später spürte Cetta wie jede Nacht, dass der alte Mann sie betastete. Und diesmal hörte sie auch einen Atemzug, unterdrückt und leise wie die Tränen, die Vito heimlich vergoss. Doch der Laut erstickte mit einem Mal. Ihm folgte ein langer zischender Hauch. Dann war alles still. Die Hand des Alten krampfte sich um Cettas Po, als wollte er sie kneifen, und rührte sich nicht mehr.
    Am nächsten Morgen war Vito tot, und Cetta und Christmas waren allein.
    »Dürfen wir hierbleiben?« Cetta sah Sal ängstlich an.
    »Ja, aber ich will keinen Ärger mit dem Hosenscheißer.«
    Cetta bemerkte seine geröteten Augen. Und da begriff sie, dass auch Sal nun allein war.

12
    Manhattan, 1922
    »Welche beiden sind es?«, fragte der Captain den Gefängniswärter.
    Der Wärter deutete auf Christmas und Santo.
    »Hol sie raus«, befahl der Captain und verlagerte dabei voller Unbehagen sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen.
    Die beiden Jungen traten ans Gitter, während der

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