Der Junge, der Träume schenkte
die Tür wieder auf, sprang aus dem Wagen, packte sie an den Haaren und schleifte sie bis zur Hauswand, wo er ihren Kopf heftig gegen die vom Frost zersetzten roten Ziegel schlug.
Cetta spuckte ihm mitten ins Gesicht.
Sal hob die rechte Hand und versetzte ihr eine Ohrfeige.
»Was willst du wissen, Kleines?«, fragte er sie, ohne sich den Speichel abzuwischen und ohne ihre Haare loszulassen. Dann näherte er sich ihrem Ohr und sagte leise: »Sie haben ihm einen Eispickel in Kehle, Herz und Leber gerammt. Danach haben sie ihm eine Kugel ins Ohr gejagt, genau hier rein.« Er steckte Cetta seine breite Zunge in die Ohrmuschel. »Das halbe Hirn quoll ihm auf der anderen Seite heraus, und weil er sich noch immer bewegte, haben sie ihn mit einem Stück Draht erdrosselt. Dann haben sie ihn in einen gestohlenen Wagen verfrachtet. Die Polizei hat beide, ihn und den Wagen, auf einer Bauparzelle in Red Hook gefunden. Mikey war mein einziger Freund. Und weißt du, wer am Steuer des gestohlenen Wagens saß?« Sal drehte Cettas Kopf, damit sie ihm in die Augen sah. »Ich!«, schrie er und boxte mit aller Kraft gegen die roten Mauersteine. Er ließ Cettas Haare los. »Ich habe den Wagen stehen lassen und bin über die Felder gerannt«, sprach Sal nun ganz ruhig weiter. Ohne Zorn. Und auch ohne Schmerz. Es war, als spräche er von jemand anders. »Ich wollte nicht, dass man mich sieht. Ich bin den Bahngleisen gefolgt und habe mich jedes Mal, wenn ich einen Zug kommen hörte, im Gebüsch versteckt. Dann bin ich in einen Tunnel gelaufen und im Morgengrauen hier im Ghetto herausgekommen. Ich habe mir ein sicheres Zimmer gesucht und mich schlafen gelegt. Ende der Geschichte.«
Cetta griff nach seiner Hand, mit der er gegen die Wand geschlagen hatte. Die Knöchel waren aufgeschrammt. Sie nahm die Hand an den Mund und leckte das Blut ab. Dann wischte sie ihm den Speichel aus dem Gesicht.
Sal warf ihr einen flüchtigen Blick zu, bevor er sich umdrehte und ins Auto stieg. »Gute Nacht, Kleines«, sagte er, ohne sie noch einmal anzusehen, und fuhr los.
Cetta schaute ihm nach, bis er in die Market Street einbog und verschwand. Sie band sich die Kette mit dem Kreuz um den Hals und hatte noch den Geschmack von Sals Blut im Mund.
Als sie ins Zimmer zurückkehrte, schlief Christmas. Vito schnarchte im Schlaf. Tonia saß mit einem Foto in der Hand am Tisch. Cetta räumte die Teller zusammen.
»Lass gut sein«, sagte die Alte leise, ohne den Blick von dem Foto zu wenden. »Darum kümmern wir uns morgen.«
Cetta nickte und begann, sich auszuziehen.
»Das ist Michele«, sagte Tonia. »Mikey, wie Sal ihn nennt.«
Cetta ging zu Tonia und setzte sich neben sie. Die alte Frau schob das Foto zu ihr herüber. Es zeigte einen Jungen in einem etwas zu grellen Anzug, mit weißem Hemd, Hosenträgern und einem weit in den Nacken geschobenen Hut, der seine Stirn frei ließ. Er wirkte klein und schmal und hatte dicht gewachsene, dunkle Augenbrauen. Und er lachte.
»Er lachte ständig«, sagte Tonia, als sie das Foto wieder an sich nahm. »Ich kann das Bild nicht offen aufstellen, denn als ich es damals getan habe, ist Vito daran fast verzweifelt. Er stand nur noch davor und weinte. Vito ist ein guter Mann, aber er ist schwach. Er war dabei, sich aufzugeben, und ich wollte nicht allein zurückbleiben. Deshalb habe ich das Foto weggeräumt.«
Cetta wusste nicht, was sie sagen sollte, und so schloss sie Tonia einfach in die Arme.
»Sal hatte ihn gewarnt«, sprach Tonia weiter. »Immer wieder hatte er ihn davor gewarnt, dem Boss Geld zu stehlen. Aber so war Mikey. Er gab sich nicht zufrieden. Ich habe mir immer zwei Söhne gewünscht. Sal war für mich der zweite Sohn, den ich nie hatte. Ich bin froh, dass er den Wagen gefahren hat, in dem mein armer Mikey lag. Wenigstens habe ich so die Gewissheit, dass er ihm, bevor er ihn zurückgelassen hat, noch einmal über die Wange gestreichelt hat. Und ihm etwas Liebevolles gesagt hat. Etwa, dass er sich vor der Nacht nicht fürchten muss, dass man ihn am nächsten Morgen finden und zu mir zurückbringen wird. Sal konnte ihn nicht retten. Er hätte nur mit ihm sterben können.« Tonia nahm Cettas Hand in die ihre. In der anderen hielt sie das Foto ihres Sohnes. »Sal ahnt nicht, dass ich es weiß. Dass er den Wagen gefahren hat, meine ich«, sagte sie leise. »Nicht einmal Vito weiß davon. Nur ich weiß es. Und jetzt auch du. Aber behalte es für dich. Dazu sind wir Frauen fähig. Wir können das, was zählt,
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