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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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Lippen. Christmas spürte, wie seine roten Wangen glühten. Er ballte die Fäuste und fuhr fort. »Tja, eines Tages also kommt auf dem Schulhof ein großer, kräftiger Typ aus der Sechsten auf mich zu, zusammen mit den Jungs aus seiner und auch denen aus meiner Klasse. Und alle lachen mir ins Gesicht. Dann sagt der Typ zu mir, er wüsste, was für einen Beruf meine Mutter hat ... und alle lachen ...«
    Ruth blickte von ihrem Teller auf. Sie sah Christmas mit hochrotem Kopf und geballten Fäusten dasitzen. Als ihre Blicke sich begegneten, gelang es ihr nicht mehr, die Augen niederzuschlagen.
    »Na ja, er meint, es wäre ein schlimmer Beruf, und ich antworte ihm, das ist nicht wahr, und da fangen alle an zu lachen, und der Typ sagt, er würde demnächst seinem Vater ein paar Cent klauen und ... und ...« Christmas presste die Lippen zusammen und atmete tief durch, ein, zwei, drei Mal. »Du weißt, was ich meine, oder? Er sagt, für ein paar Cent würde er meine Mutter mit auf ein Zimmer nehmen und widerliches Zeug mit ihr tun. Da gehe ich auf ihn los, damit er alles zurücknimmt, was er gesagt hat, aber er ...«, Christmas lachte freudlos auf, »er hat zugeschlagen, mit nur einem Faustschlag hat er mich umgehauen. Und während alle lachen, zieht er ein Messer, setzt sich auf mich, reißt mir das Hemd auf ...«, Christmas begann, sein Oberhemd aufzuknöpfen, »und ritzt mir das hier ein.«
    Als er sein Hemd öffnete, sah Ruth die Narbe. Eine schmale Narbe, olivfarben und wulstig, die aussah wie ein H.
    »Hure«, sagte Christmas leise. »Und damit mich auch alle sehen konnten, zog er mich danach am Ohr über den ganzen Schulhof, als wäre ich ein Hund.« Christmas schwieg und blickte Ruth an. »Ich bin immer gern zur Schule gegangen. Aber seit dem Tag war ich nicht mehr da.«
    Ruth sah an seinen geröteten Augen, dass er mit den Tränen der Wut kämpfte. Instinktiv wollte sie die Hand ausstrecken, um ihn zu berühren.
    »An dem Tag fand ich auch heraus, was für einen Beruf meine Mutter hatte«, sagte Christmas mit ausdrucksloser Stimme.
    Ruth ließ von den Krümeln ab und bewegte langsam die Hand. Dieser Junge war fähig, Geschenke zu machen, die mit keinem Geld der Welt zu kaufen waren. Du musstest es sein, dachte sie zu ihrer Überraschung. Und sie stellte sich vor, wie sanft dieser Junge sie in seine Arme nehmen würde, ohne ihr das Gefühl zu geben, in Gefahr zu sein, ohne jede Gewalt, jederzeit bereit, sie vor allem und jedem zu beschützen. Sie stellte sich vor, wie zart seine Berührungen sein würden, wie wohlriechend seine Lippen, wie strahlend seine Augen. Dabei fühlte sie sich zu ihm hingezogen wie in einem glasklaren Wasserstrudel, wie in einem Anfall von Schwindel. Und wie von selbst schob sich ihre Hand durch die Brotkrumenwüste hin zu seiner. Ihr Mund bewegte sich auf seine Lippen zu, in dem verzweifelten Wunsch, die Erinnerung an jene anderen Lippen auszulöschen.
    Doch als Ruth plötzlich zu sprechen begann, klang ihre Stimme hart und aggressiv. »Wir können nicht mehr als Freunde sein«, sagte sie übertrieben laut und zog sich zurück.
    Im Nebenzimmer seufzte der alte Saul auf.
    Christmas versetzte es einen Stich in die Magengrube. Hätte ich gestanden, dachte er, wären mir die Beine eingeknickt. »Klar ...«, sagte er schließlich. Er blickte hinab auf seinen Teller. Ach, zum Teufel!, dachte er und fuhr mit dem Finger durch die Sahnereste, die er mit dem Löffel nicht hatte aufnehmen können. Wie zum Trotz steckte er ihn in den Mund und leckte ihn ab, wobei er Ruth nicht aus den Augen ließ. »Klar«, sagte er noch einmal, nun ebenfalls in aggressivem Ton. »Du bist ein reiches Mädchen und ich ein armer Schlucker aus der Lower East Side. Glaubst du, ich weiß das nicht?«
    Ruth sprang auf. Sie warf mit der Serviette nach ihm. »Du bist ein Idiot!«, zischte sie, rot im Gesicht vor Wut. »Darum geht es überhaupt nicht.«
    Christmas knüllte seine Serviette zusammen, tauchte sie in die Wasserkaraffe und tat, als zielte er damit auf Ruth.
    »Versuch das ja nicht«, sagte sie und wich zurück.
    Christmas grinste sie an. Abermals holte er aus, als wollte er sie bewerfen.
    Ruth stieß einen spitzen Schrei aus und trat einen weiteren Schritt zurück.
    Christmas lachte. Da konnte auch Ruth nicht mehr anders und stimmte in sein Lachen ein. Christmas legte die Serviette auf den Tisch und sah Ruth ernst an.
    »Wir werden sehen«, sagte er.
    »Was werden wir sehen?«
    »Wir werden sehen«, wiederholte

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