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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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zufrieden.
    »Manche reichen Leute, Junge«, sagte Ruths Vater. »Manch andere wiederum vermeiden diese Art von Sprache, wie du ganz richtig festgestellt hast.«
    »Stimmt, und zwar diejenigen, die nichts zu ihrem Reichtum beigetragen haben«, stellte der Patriarch der Familie fest. Dann wandte er sich an Christmas. »Da du ja Italiener bist, habe ich für dich Spaghetti mit Fleischklößen zubereiten lassen«, erklärte er, während der Diener reihum die Teller füllte.
    »Ich bin Amerikaner«, widersprach Christmas. »Wie dem auch sei, die sehen gut aus«, fügte er mit Blick auf den Spaghettiberg hinzu, den der Diener ihm auf den Teller häufte.
    »Die Fleischklöße sind allerdings ohne Wurst zubereitet«, sagte der Alte. »Wir Juden essen kein Schweinefleisch. Und das Fleisch ist koscher.«
    Christmas wollte sich schon auf die Nudeln stürzen, als ihm wieder einfiel, dass er schauen sollte, wie die anderen sich benahmen. Sie sogen die Spaghetti nicht schlürfend in den Mund, stellte er fest und befand, dass gutes Benehmen eine ziemlich langweilige Angelegenheit war. Gerade das Schlürfen war doch das Lustige an Spaghetti. Aber er passte sich an. Als er den ersten Bissen hinuntergeschluckt hatte, fragte er den Alten: »Sind Sie nicht in Amerika geboren, Mr. Isaacson?«
    »Nein.«
    »Ihr Sohn dagegen schon?«
    »Ja.«
    »Dann ist Ihr Sohn also Amerikaner, kein Jude«, folgerte Christmas.
    »Nein, Junge. Mein Sohn ist ein amerikanischer Jude.«
    Nachdenklich aß Christmas eine weitere Gabel voll Nudeln. »Das heißt, wenn du Jude bist, hast du Pech gehabt, was?«, sagte er schließlich. »Du wirst nie einfach nur Amerikaner.«
    Die Eheleute Isaacson erstarrten. Ruth sah ihren Großvater an.
    Der alte Mann lachte leise. »Genau, wenn du Jude bist, hast du Pech gehabt.«
    »So ist das auch bei Italienern«, bemerkte Christmas kopfschüttelnd.
    »Ja, ich denke schon«, stimmte der Alte zu.
    Nachdem Christmas den letzten Fleischkloß verputzt hatte, legte er die Gabel auf den Teller und wischte sich den Mund ab. »Tja, ich will einfach nur Amerikaner sein.«
    Der Alte hob den Kopf und sah ihm geradewegs ins Gesicht. »Viel Glück«, sagte er.
    Ruth beobachtete ihren Großvater. Es war offensichtlich, dass er den blonden Jungen mit den pechschwarzen Augen mochte. Niemandem sonst hätte er derartige Bemerkungen durchgehen lassen. Vor allem aber hätte er sich keinem anderen gegenüber so gut gelaunt gezeigt. Der Großvater schenkte selten jemandem ein Lächeln, und wenn, dann fast nur ihr. Ruth blickte hinüber zu ihren Eltern. Nur halbherzig und mit unverkennbarem Desinteresse verfolgten sie die Unterhaltung. Wie immer waren sie mit den Gedanken woanders. Ebenso unverkennbar war ihre Geringschätzung – oder, schlimmer noch, ihre völlige Nichtbeachtung – des Jungen, der ihre Tochter gerettet hatte. Ruth hatte manchmal den Eindruck, als lebten sie in dem Glauben, allen anderen Menschen überlegen zu sein. Viele Male hatte sie den Großvater und ihren Vater über die Fabrikarbeiter reden hören. Für Großvater Saul waren sie Juden, wie er selbst einer war, ihr Vater hingegen bezeichnete sie als »Hungerleider« und »Leute aus dem Osten«. Der Großvater hatte keine Skrupel, sie auszubeuten und so schlecht wie möglich zu bezahlen, doch er zeigte Interesse für ihre Familien. Ihr Vater hatte keine Skrupel, sie auszubeuten und so schlecht wie möglich zu bezahlen, doch er wusste noch nicht einmal, wie sie hießen, wo sie lebten und wer sie eigentlich waren. Und die Arbeiter – die »Hungerleider« – betrachteten den Großvater als einen der Ihren, der es geschafft hatte, während der Vater für sie ein Niemand war. Und es gab Momente, in denen Ruth den Eindruck hatte, auch Großvater Saul halte seinen Sohn für einen Niemand. Ganz im Gegensatz dazu schien Christmas für ihn jemand zu sein. Der Großvater ließ eine Art Bewunderung für den Jungen erkennen. Vielleicht war es diese Beobachtung, die Ruths Widerstand schmelzen ließ und bei ihr eine unerwartete Gefühlsregung auslöste. So als gefiele ihr der Junge oder als könnte er ihr gefallen. Kaum wurde Ruth sich dieses Gefühls bewusst, erschrak sie, hatte sie sich doch geschworen, die Männer für immer aus ihrem Leben zu verbannen.
    »Wie heißt eigentlich das Land der Juden?«, fragte Christmas unterdessen den alten Mann und machte sich über die scharf gewürzte Hauptspeise her.
    »Die Juden haben kein eigenes Land«, erklärte der Alte.
    »Was macht einen

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