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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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Christmas.
    Ruth betrachtete ihn schweigend. Sie versuchte, Bills Gesicht, das vor ihrem inneren Auge stand, zu vertreiben. Doch es war ihr unmöglich. Immer und überall sah sie es vor sich. Sogar wenn sie ihren Vater anschaute. Immer, wenn sie dem Blick eines Mannes begegnete, sah sie Bill. Und dann spürte sie den erniedrigenden Riss zwischen ihren Beinen und das Blut, das ihr die Beine herabrann. Und sie hörte das Knacken – wie das eines trockenen Astes –, mit dem die Gartenschere ihr den Finger abtrennte.
    »Gar nichts werden wir sehen«, sagte Ruth ernst.
    Blitzschnell schnappte sich Christmas die Serviette und bewarf sie damit.
    »Blödmann!«, schimpfte Ruth, und für einen Moment verschwand Bills Gesicht und sie sah einzig Christmas’ schwarze Augen unter der vorwitzigen Locke, deren Farbe sie an den alten Goldschmuck ihrer Großmutter erinnerte. Da lachte sie, hob die Serviette auf und warf sie, übermütig wie ein kleines Mädchen, zurück. Wie ein kleines Mädchen, dem es hin und wieder gelang zu vergessen, dass es in nur einer Nacht zur Frau geworden war.
    Im Nebenzimmer stand Saul Isaacson mit der Zigarre im Mund auf und verließ den Raum. Er ging zu Fred nach draußen und sagte: »Es wird Zeit, diesen Wirbelwind zurückzufahren, bevor er mir das ganze Haus auf den Kopf stellt.«
    Ruth und der alte Isaacson blieben auf der Treppe zum Portikus der Villa stehen und sahen dem Rolls nach, wie er kurz darauf knirschend über die Kiesallee davonfuhr.
    »Ich habe mich immer gefragt, wie ein hübsches Mädchen wie Oma so einen hässlichen Vogel wie dich heiraten konnte«, sagte Ruth und lehnte den Kopf an die Schulter des Großvaters.
    Der Alte lachte leise.
    Am Ende der Allee hielt der Rolls vor dem Haupttor.
    »Warst du als Junge so wie Christmas?«, wollte Ruth wissen.
    Langsam öffnete der Wächter das Tor.
    »Vielleicht«, antwortete der Alte nach einer Weile.
    Der Rolls fuhr erneut an, bog nach links ab und verschwand.
    »Bin ich so hübsch wie Oma?«
    Der Alte wandte sich Ruth zu. Er strich ihr über das Haar und legte dann den Arm um ihre Schultern. »Lass uns hineingehen, nicht dass dir noch kalt wird.«
    Am Ende der Allee schloss der Wächter das Tor.
    Und in die bequemen Sitze des Rolls geschmiegt, hielt Christmas einen kleinen Zettel fest umklammert. Ruths Adresse in Manhattan, die ihrer Schule und eine Telefonnummer.

18
    Manhattan, 1911–1912
    »Was wird aus mir, wenn mein Körper nicht mehr begehrenswert ist?«, fragte Cetta.
    »Du bist siebzehn. Bis dahin ist noch Zeit«, antwortete Sal, der im Unterhemd auf dem Bett lag und Christmas beobachtete, der auf dem Boden saß und mit der Puppe spielte, die er zu seinem dritten Geburtstag geschenkt bekommen hatte. »Der Hosenscheißer wächst schnell, was?«, bemerkte Sal grinsend.
    »Auch ich wachse schnell«, brummte Cetta. »Nur da heißt es ›alt werden‹.«
    Einen Augenblick noch sah Sal zu, wie Christmas, ohne Unterlass plappernd, sein neues Stofftier – einen Löwen, dem er bereits den Schwanz abgerissen hatte – mit der Yankee-Puppe kämpfen ließ. Die Puppe hatte im Laufe der Zeit durch den Übermut des Jungen weitaus schlimmere Verstümmelungen erlitten als ihr Kamerad mit der rotbraunen Mähne. Dann stand Sal vom Bett auf und trat zu Cetta an den Herd, auf dem die Nudelsoße vor sich hin köchelte. »Wieso sollen wir uns den Sonntag verderben?«, fragte er und legte ihr die Hand auf die Schulter.
    Cetta wich der Berührung aus.
    »Wäre da nicht der Hosenscheißer, wüsste ich schon, wie ich dich zähmen könnte«, scherzte Sal augenzwinkernd.
    »Stirb, Hosenscheißer!«, brüllte Christmas, während er den Löwen auf die Kehle des Yankee-Spielers losließ.
    Sal lachte. Cetta wandte ihm den Blick zu. Noch vor einiger Zeit hätte sie nicht geglaubt, Sal einmal so herzlich lachen zu sehen. Doch Christmas brachte ihn oft zum Lachen. Sal sah sie an und lächelte. Sofort wurde Cetta wieder ernst.
    »Werde ich diesen Job für immer machen müssen? Bis ich alt und hässlich bin? Bis du es leid bist, mich zu kosten?«, fragte sie und wedelte zornig mit dem Kochlöffel durch die Luft.
    »Runter mit der Waffe«, sagte Sal.
    »Runter mit der Waffe, Hosenscheißer!«, rief Christmas fröhlich.
    Wieder lachte Sal.
    »Es ist mir ernst«, sagte Cetta.
    »Du schmeckst zu lecker«, schmeichelte Sal und trat näher zur ihr heran. »Ich werde es nie leid sein, dich zu kosten.«
    »Ich meine es ernst!« Cetta knallte den Kochlöffel auf den

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