Der Junge, der Träume schenkte
Christmas. Er konnte an nichts anderes denken als an Chick, der von einem Bein auf das andere gehüpft war wie eine Feder. Und im Ohr hatte er einzig das rhythmische Geräusch, das er dabei verursacht hatte.
Joey wickelte sich den Geldschein um den Finger. »Abe der Trottel braucht mindestens ein halbes Jahr, um so einen fetten Fünfziger zu machen«, sagte er und versuchte zu lachen.
»Tja ...«, brachte Christmas hervor. Er wollte nur noch nach Hause. Er lebte. Und Chick würde seinetwegen ein Leben lang hinken.
Abermals wickelte Joey den Schein um seinen Finger. »Man sieht sich, Kumpel«, meinte er schließlich.
»Man sieht sich«, gab Christmas zurück und machte sich auf den Weg zur Lower East Side.
Als er zu Hause ankam, war die Wohnung nicht dunkel, wie er erwartet hätte. Cetta saß regungslos im Wohnzimmer auf dem Sofa. Das Radio war ausgeschaltet.
»Bist du nicht zur Arbeit gegangen?«, fragte Christmas überrascht.
»Nein«, antwortete Cetta bloß. Sie erzählte ihm nicht, dass sie auf ihn gewartet hatte, dass sie Sal angefleht hatte, ihr an dem Abend freizugeben, weil sie gewusst hatte, ihr Sohn würde sie brauchen.
Christmas blieb schweigend stehen In ihm gärte noch immer die Wut, und er konnte die Gedanken an Chick nicht abschütteln. Genauso wenig wie die an Bill und an Ruth.
»Setz dich hierher«, sagte Cetta und klopfte mit der Hand auf den Platz neben sich.
Christmas zögerte. Dann gehorchte er. So saßen sie schweigend nebeneinander da, den Kopf gesenkt, den Blick auf die Schuhspitzen gerichtet. Und langsam wich in Christmas die Wut der Angst.
»Mama ...«, sagte er nach einer ganzen Weile leise.
»Ja?«
»Sieht man, wenn man erwachsen wird, überall nur noch Schmutz?«
Cetta gab keine Antwort. Sie starrte ins Leere. Es gab Fragen, die man nicht beantworten musste. Denn die Antwort war nicht weniger schmerzlich als die Frage. Und so zog sie ihren fünfzehnjährigen Sohn an sich, nahm ihn in die Arme und streichelte ihm sanft über das Haar.
Instinktiv wollte Christmas von ihr abrücken, doch dann schmiegte er sich in die Arme der Mutter, ahnte er doch, dass dies die letzten Liebkosungen waren, die er als Kind empfing. Sie schwiegen, denn es gab nichts weiter zu sagen.
24
Manhattan, 1913
Cetta blieb liegen, als Andrew vom Bett aufstand und sich anzog.
»Wie geht es mit dem Streik in Paterson voran?«, erkundigte sie sich bei ihm.
»Es geht voran.«
»Was heißt das?«, hakte Cetta mit einem gezwungenen Lächeln nach.
»Dass es vorangeht«, sagte Andrew, ohne sich umzudrehen. Mit dem Rücken zu Cetta setzte er sich aufs Bett und band sich die Schuhe zu.
»Werdet ihr denn bekommen, was ihr fordert?« Cetta streckte ein Bein aus und streichelte mit dem Fuß Andrews Rücken.
Andrew setzte sich gerade und stand wieder auf. Er nahm seine Uhr vom Nachttisch und ließ sie in die Westentasche gleiten. Dann schloss er die fünf Knöpfe. »Ich muss gehen, Liebling«, sagte er. »Ich habe jetzt keine Zeit, entschuldige.«
Er nennt mich immer »Liebling«, dachte Cetta, während sie ihm zusah, wie er seine Jacke mit den Flicken an den Ellbogen anzog und seine runden Brillengläser mit einem Taschentuch putzte. Er nannte sie immer »Liebling«, hatte jedoch nie viel Zeit, mit ihr zusammen zu sein. Nicht nachdem sie miteinander geschlafen hatten. Auch hatte er sie noch nie an einem Sonntag zu Hause besucht, um gemeinsam mit ihr zu essen und Christmas kennenzulernen. Und nie wieder hatte er sie in das italienische Restaurant in der Delancey ausgeführt. Es gab nur dieses Zimmer in der Pension am South Seaport, unweit des Gewerkschaftsbüros. Jeden Donnerstag. Manchmal auch dienstags.
Andrew wandte sich zu ihr um. »Liebling, sei nicht böse ...«
Ja, »Liebling« ist ein Wort, das Andrew mit großer Leichtigkeit ausspricht, dachte Cetta. Ganz anders als Sal, der sie nicht ein einziges Mal so genannt hatte. Der sie aber Sonntag für Sonntag im Kellerraum bei Tonia und Vito Fraina besucht hatte, pikante Würstchen und Wein mitgebracht und ihr nie beim Kochen geholfen hatte.
Andrew beugte sich über das Bett und gab ihr einen Kuss auf den Mund.
Er küsst mich immer auf den Mund, dachte Cetta weiter. Wenn wir uns treffen, wenn wir miteinander schlafen und wenn er wieder geht und mich ermahnt, noch etwas zu warten, bevor ich die Pension verlasse, weil es besser ist, wenn man uns nicht zusammen sieht. Weil er ein verheirateter Mann ist.
»Warte zehn Minuten, bevor du hinausgehst«, bat
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