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Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Titel: Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Brown
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in der Lage sein, ihm das alles zu erklären?«
    Wang schüttelte den Kopf. »Nicht rational, wahrscheinlich nicht. Aber«, er hielt inne, dachte nach, »es klingt, als hätte er es schon verstanden.« Noch eine Pause. »Die Buddhisten sagen, der Weg zur Erleuchtung, zum reinen Dasein, liegt darin, die Gedanken wegschieben zu können. Ich will nicht abgedroschen klingen, aber Walker weiß bereits, wie er das tun muss. Er ist reines Dasein. Er ist vielleicht entwicklungsverzögert oder mittelgradig geistig behindert, aber in gewisser Weise ist er uns schon meilenweit voraus.«
    Das war das erste Mal, dass jemand meinte, dass Walker eine Gabe hätte, die der Rest von uns nicht besaß.
    Allmählich, während die ewige Routine, für ihn zu sorgen, ihn zu beobachten, ihn zu stoppen und ihn zu stimulieren, immer vertrauter wurde, ließ meine Angst nach, und mein Kummer verwandelte sich in eine ungewöhnliche Einsamkeit. Das Leben mit ihm und das Leben ohne ihn: Beides war undenkbar.
    So sehr ich auch versuchte, über Alternativen nachzudenken, ich konnte mir nicht vorstellen, mich nicht jeden Tag um ihn zu kümmern: Konnte mir keinen Tag vorstellen ohne das morgendliche Aufwecken, das Saubermachen, Anziehen, die Schule, die Rückkehr nach Hause, das müde Weinen, die plötzlichen Umschwünge und die Ausbrüche sonnigen Glücks, das Füttern, das sinnlose Lernen, die Ausgelassenheit, die Krankenhäuser und Ärzte, die ständige Sorge, die nächtlichen Wanderungen, dies alles Tag für Tag aufs Neue, bis es endete, wie auch immer das geschehen würde. Es gab keinen Ort für ihn, den wir uns für ihn leisten konnten, und es gab sowieso keinen anderen Ort für ihn.
    Unsere Freunde boten an, ihn zu sich zu nehmen, um uns ein Wochenende zu ermöglichen, an dem wir weg konnten. Wir haben das zwei Mal in zwölf Jahren angenommen. Jedes Mal war es ein anderes Paar, unsere engsten Freunde, jedes Mal für eine Nacht. Sie hatten es oft angeboten, bevor wir schließlich einwilligten. Sich um Walker zu kümmern, war schließlich etwas zu Kompliziertes, um andere darum bitten zu können, mit all diesen Schläuchen und seiner Nahrung und den Medikamenten und dem unaufhörlichen Schlagen und Weinen. Sie hatten einen bestimmten Gesichtsausdruck, als ich ihn hinbrachte – aufmerksam, aber eifrig – und einen ganz anderen sechsunddreißig Stunden später, als ich ihn wieder abholte, den Ausdruck von jemandem, der gerade 150 Gäste übers Wochenende im Haus gehabt hat, in dessen Verlauf die gesamte Sanitäranlage explodiert ist. Den gleichen erstaunten Gesichtsausdruck habe ich vor ein paar Wochen auf den Gesichtern von Fluggästen gesehen, die in ihrem Flugzeug eine Bruchlandung auf dem Hudson River wie durch ein Wunder sicher überstanden hatten. Das war der Gesichtsausdruck, den unsere Freunde nach einem Wochenende mit Walker hatten. Ich verstehe das vollkommen. Aber ich werde ihnen gegenüber immer loyal bleiben, weil sie es versucht haben – sie haben versucht, in unsere Dunkelheit hinab zu reichen und uns zu stützen. Ich kann ihnen gar nicht sagen, wie tief sich dieser Brunnen anfühlte, wie tief hinunter sie greifen mussten. Ich habe sie nie wieder gefragt. Es war, wie ich immer zu Johanna sagte, eine zu große Bitte.
    »Ich wünschte, Leute, die wir kennen, würden uns öfter anbieten, ihn zu nehmen«, sagte sie eines Nachts.
    Wir redeten im Bett miteinander, eine der seltenen Nächte, in denen Walker einfach eingeschlafen war. Damals war es schon so selten geworden, dass wir in der Dunkelheit nebeneinander liegen konnten, dass es schon wieder aufregend geworden war. Ich konnte ihre warme Haut an meiner spüren, aufgeregt von der relativen Neuartigkeit eines Erwachsenen an meiner Seite. Im Zimmer war es so dunkel, dass wir einander gar nicht sehen konnten, aber wir redeten dennoch in die schwarze Nacht hinein. Ein kleiner Akt des Vertrauens und jemand, der zuhörte.
    »Ich meine, niemand aus meiner oder deiner Familie hat jemals angeboten, ihn auch nur für eine einzige Nacht zu nehmen. Meine Mutter, einmal. Das war’s.« Ich war schockiert, nicht nur von der Wahrheit dessen, was sie da gerade gesagt hatte, sondern auch von der Kühnheit dessen, was sie da nahelegte. Jemanden zu bitten, Walker zu nehmen! Wer zum Teufel dachte sie, war sie denn? Meine Eltern waren in ihren Achtzigern, und sie hatten Angst vor Walker, Angst, dass sie nicht wissen würden, was zu tun war. Meine Schwestern lebten in anderen, weit entfernten Städten.

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