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Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Titel: Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Brown
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witzige Geschichten vom Aufwachsen auf dem Land erzählte –, oder die Frau, die darauf bestand, dass Hayley ihr alle roten, sauren Würmer aus einer Tüte mit Süßigkeiten gab und dass sie einer nach dem anderen zu ihren Fingern getragen werden mussten. Wir lebten in unserer eigenen Welt, einer Unterwelt von Walkers Gnaden.

Sechs
    ABER ICH MÖCHTE Sie Folgendes fragen: Ist das, was wir durchgemacht haben, wirklich so verschieden von dem, was alle Eltern durchmachen? Selbst wenn Ihr Kind so normal wie der helle Tag ist, ist unser Leben denn so weit von ihrer eigenen Erfahrung entfernt? Vielleicht etwas intensiver, oft extremer, gewiss. Aber ist es grundsätzlich so anders?
    Wir sind keine Behinderungs-Masochisten. Solche Leute habe ich auch kennen gelernt. Eltern von behinderten Kindern, die ihr Elend regelrecht zu genießen schienen und damit auch die Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass sich alle anderen schuldig und privilegiert fühlen. Ich mag sie nicht, hasse ihr wütendes Anspruchdenken, ihr gnadenloses Selbstmitleid, das sich als Mut und Mitleid maskierte, ihre Unfähigkeit, einen Schritt weiter zu gehen und um Hilfe zu bitten. Sie wollen, dass sich die Welt ihren Umständen anpasst, während ich dagegen – wenn ich es irgendwie auf den Punkt bringe – nur wollte, dass der Rest der Welt anerkennt (keine große Sache!), dass unsere Leben, die von Walker, Hayley, meiner Frau und mir, nicht anders sind als die von anderen, höchstens im Grad der Konzentration. Ich sehe ein, dass ich mir etwas vorgemacht habe. Die Leute sagten oft: »Wie machen Sie das? Wie können Sie immer noch lachen, wenn Sie doch so einen Sohn haben?« Und die Antwort war einfach: Es ist schwerer, als irgendjemand sich das vorstellen kann, aber auch befriedigender und lohnender. Was sie nicht sagten, war: »Warum lassen Sie ihn zu Hause bei sich wohnen? Gibt es keinen anderen Ort, an dem man sich um ein Kind wie Walker kümmern kann? Wo nicht zwei Elternteile die ganze Last tragen, es möglich wäre, tatsächlich etwas mehr Zeit für sich zu haben, um zu arbeiten und zu leben und sich daran zu erinnern, wer sie sind und wer sie sein könnten?«
    Ich stellte mir diese Fragen auch. Ich wusste, dass Walker irgendwann in einer Wohngruppe oder einem Heim würde leben müssen, aber das war sicher noch Jahre hin. Ich näherte mich diesem Thema beiläufig, sogar zu Hause. »Wir sollten ihn auf die Warteliste für eine dauerhafte Unterbringung setzen«, sagte ich, einfach so beim Frühstück. Nachts im Bett neigte ich dazu, über das Problem nachzudenken.
    »Oh«, antwortete Johanna jedes Mal, »so weit bin ich noch nicht.«
    »Nein, nein, jetzt noch nicht«, sagte ich dann. »Später.«
    Als Walker zwei wurde, begann er, seine Ohren zu packen und sich selbst zu beißen. Er hörte damit für eineinhalb Jahre nicht mehr auf. Wir dachten, er hätte Zahnschmerzen, Ohrenschmerzen. Aber die hatte er nicht. Selbstverletzend erscheint zum ersten Mal auf seinem Krankenblatt im März 1999, kurz vor seinem dritten Geburtstag. Er stieg schnell zur nächsten Spielklasse auf: sich gegen den eigenen Kopf zu schlagen. Er legte sein ganzes Gewicht in die Schläge, wie ein guter Boxer. Hayley nannte das »bumsen«, also taten wir das auch.
    Die Ironie an der Sache war, das er tatsächlich einen gewissen Fortschritt gemacht hatte: feinere Zangenbewegungen mit seinen Fingern, ein bisschen essen. (Er liebte Eis. Wenn man ihn dazu brachte, es zu schlucken, musste er von Eis gleichzeitig lächeln und die Stirn runzeln – wegen der Kälte.) Er konnte Gegenstände weiter verfolgen und zum Abschied winken, und oft babbelte er wie ein Verrückter.
    Dann stürzte er ins Dunkel.
    War es Selbsthass? Ich fragte mich das. Wir meldeten ihn in einer berühmten Rehabilitationsklinik an, dem Bloorview MacMillan Children’s Centre (inzwischen Bloorview Kids Rehab) im Norden Torontos, wo sich ein Verhaltenstherapeut um ihn kümmerte. Überall sonst, wenn die Leute seine blauen Flecken sahen, fragten sie sich, was wir wohl mit unserem Kind taten. Kann nicht kommunizieren , notierte Dr. Saunders.
    Manchmal litt Walker Qualen, während er sich selbst schlug und vor Schmerzen schrie. Andere Male schien er es mehr als eine Art Ausdrucksmittel zu betreiben, eine Form, seinen Kopf zu klären oder uns wissen zu lassen, dass er etwas sagen würde, wenn er sprechen könnte. Manchmal – und das war unerträglich traurig – lachte er direkt danach. Er konnte uns nichts erzählen, und wir

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