Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
gehabt hatte und ich ihn für sie durch die dunklen Orte getragen hatte, bis sie bereit gewesen war, ihn zu lieben. Das verschaffte mir Raum. Oder vielleicht, wie sie eines Abends sagte: »Ich sehe Walker als Walker. Und wenn ich andere Kinder wie ihn sehe, dann werde ich anfangen, ihn als Kind mit einem Syndrom zu sehen.« Sie zog es vor, ihn als den einzigen seiner Art zu sehen. Ich wollte, dass er wie die Welt war – oder, obwohl ich das damals nicht wusste, auch umgekehrt.
Emily Santa Cruz ist schwer zu vergessen. Sie war die erste Person mit CFC , neben Walker, die ich je kennen gelernt habe.
Sie war neun Jahre alt und in den Armen ihrer Mutter Molly, auf der Veranda ihres blau-weißen Hauses in Arroyo Grande, an der Küste Kaliforniens auf dem halben Weg nach Süden. Arroyo Grande ist eine Gegend, in der die industriellen Farmen des trockenen und heißen Salinas Valley in die kühlere Küste und den Pazifik übergehen. Wenn man dorthin gelangt, ist es, als gerate man in eine neue, weitaus angenehmere Umgebung.
Emily hatte lockiges, schwarzes, typisches CFC -Haar, wie Walker, schräg gestellte Augen wie Walker, knubbelige CFC -Finger, dicke braune CFC -Haut. Ich konnte gar nicht aufhören, sie anzustarren. Wie Walker war sie spindeldürr und konnte auch nicht sprechen, aber sie konnte sich mehr konzentrieren als er, und sie war auch nicht so schüchtern. Es war eine Erleichterung auf jemanden zu stoßen wie meinen Sohn, aber auch ein Schock zu sehen, wie krass das Syndrom wirklich ist: Ich hatte noch keine emotionale Beziehung zu Emily, musste nicht nach dem »inneren Mädchen« suchen oder mehr in ihr sehen als sie war, und so sah ich bloß, was da war: ein kleines, krummes, ungewöhnliches, seltsames, zuckendes Kind, geplagt, aber auch konturiert durch ihre Plagen. Eine elementare Form des Menschen. Schwarzbraune Augen, ein Grinsen so breit wie ein Kotflügel.
Selbst ihr Haus sah so aus wie unseres, jede Oberfläche war etwa einen halben Meter weit abgeräumt, so weit Emily reichen konnte. Wie Walker liebte sie es, Dinge auf den Boden zu schmeißen. Überall im Wohnzimmer war Spielzeug verstreut, die Relikte ihres Morgens.
Nachdem Molly Santa Cruz mich hinein gebeten und die Bitte geäußert hatte, ein paar Fotos von meinem Sohn zu sehen, redeten wir ohne Pause acht Stunden lang. Emily hatte in mancher Hinsicht mehr Glück als Walker – sie konnte selbstständig essen – und in anderer Hinsicht nicht. Eine Liste am Kühlschrank enthielt eine Chronik ihrer Anfälle. Sie war seitenlang, einzeilig und verzeichnete tägliche Einträge.
Manchmal stand Emily von ihrem Stuhl auf, kauerte sich neben uns auf alle Viere und guckte sich ein Spielzeug an. Manchmal kratzte sie mit den Fingern an einer Stelle der Wand herum. Das gleiche aufgeregte Kreischen wie bei Walker, das gleiche Zwitschern, wenn sie etwas wollte.
Alles, was Molly mir erzählte, wirkte vertraut. Emily schlief gern ohne Decke. In den ersten drei Jahren wachte sie jede Nacht auf, und zwar drei Mal in der Nacht. »Ich glaube, neurologisch geschädigte Kinder stehen gern um drei oder vier Uhr morgens auf«, sagte Molly. Ihre Leben wurden von den medizinischen und therapeutischen Terminen reguliert: Beschäftigungs- und Sprachtherapie zwei Mal die Woche, Orthopädie alle drei bis sechs Monate, ein Mal im Jahr der Kardiologe, zwei Mal im Jahr Ophthalmologie, der Neurologe vier Mal im Jahr.
Molly war fünfundvierzig. Sie hatte etwas sehr Nüchternes an sich, das Ergebnis von neun Jahren Ganztagsfürsorge für Emily, gefolgt von der abendlichen Arbeit im Familienrestaurant im nahe gelegenen Nipomo. Ihr Ehemann Ernie war sechsundfünfzig. Er war Logistikspezialist für eine Firma, die Slime produzierte, ein Dichtungsmittel für Autoreifen. Leanne, Emilys ältere Schwester, war achtzehn.
Nachdem wir eine Stunde miteinander gesprochen hatten, begann Emily, sich für mich zu erwärmen. Sie näherte sich meinem Gesicht auf fünf Zentimeter und untersuchte mein Notizbuch. Ich zeichnete ein Bild von ihr, und sie betrachtete das Bild und hustete, lachte dann über ihren Husten. Ich rieb ihr den Rücken, er war dünn und knochig, ihr Rückgrat ein dünner Streifen wie bei meinem Sohn. Sollten die Menschen jemals freundlich gesinntes und kooperationsbereites Leben auf anderen Planeten entdecken, dann wäre ich nicht überrascht, wenn sie sich genauso fühlen würden wie ich an jenem windigen Nachmittag in Kalifornien, nachdem ich Walkers genetische Kusine
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