Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
was wusste sie schon? Er schlief drei Stunden pro Nacht, wobei er die ganze Zeit unter Aspiration und Reflux litt. Bei ihm wurde das Costello-Syndrom diagnostiziert, eine genetische Mutation, die viele Symptome und Erscheinungsformen mit CFC gemeinsam hat – tatsächlich so viele, dass die Syndrome oft miteinander verwechselt werden, obwohl die Auswirkungen ganz verschieden sein können. (Beim Costello-Syndrom sind die Gesichtszüge im Allgemeinen weicher, und die geistige Behinderung ist geringfügiger, aber man verbindet damit auch bestimmte Formen der Krebserkrankung, was bei CFC nicht der Fall ist. Kate Rauen und andere Wissenschaftler haben Gene, die für das Costello-Syndrom verantwortlich sind, ebenfalls bereits identifiziert.) Sie erinnerte sich an den Tag seiner Diagnose ganz deutlich, teilweise weil die Diagnose – Costello-Syndrom – sie überraschte: Ihrer Meinung nach gab es in Daniels Erscheinungsbild Elemente, die nicht zur Symptompalette von Costello passten. Dennoch, eine Diagnose war eine Diagnose, und sie plante an jenem Nachmittag bereits, die Folgen zu recherchieren.
Aber auf dem Nachhauseweg von dem Arzt traf Amy, während sie mit Daniel an der Hand die Straße entlang ging, zufällig eine Frau, die sie kannte, sie hatten zusammen ehrenamtlich gearbeitet. Die Frau sah Daniel an und wurde ganz weiß. »Ich habe eine Freundin, die einen Sohn hat, der genauso aussieht«, sagte sie. Kaum war Amy zu Hause, faxte sie Daniels Foto an die Freundin ihrer Freundin. Die Frau rief sie sofort an: »Ihr Sohn hat CFC .« Statt das Costello-Syndrom zu recherchieren, rief Amy an jenem Nachmittag Brenda Conger an. Dies ist keine ungewöhnliche Geschichte in der Welt von CFC .
Amy Hess’ Bekannte hatte Recht: Daniel hatte CFC und die missgebildeten Gene, die es bewiesen. Die korrekte Diagnose nahm Amy nicht ihre Last, aber das Wissen, dass ihr Sohn das Produkt einer spontanen genetischen Mutation war, vermutlich im Augenblick der Empfängnis, half ihr auf andere Weise: »Es räumte mit dem Schuldgefühl auf, dass ich ein Kind, das leidet, auf die Welt gebracht hatte. Sie wissen schon: › Was habe ich falsch gemacht? Ist es passiert, weil ich eine Maniküre hatte, während ich schwanger war, und die Dämpfe haben das bewirkt? Lag es daran, dass ich Fallschirmspringerin bin und ein paar Sprünge absolviert habe, bevor ich wusste, dass ich schwanger war, und er hat dabei unter Sauerstoffmangel gelitten? ‹ Und so brachte mir diese Diagnose Seelenfrieden.«
Oder jedenfalls das an Seelenfrieden, was den Eltern eines behinderten Kindes möglich ist. Weil selbst eine klare Diagnose das uralte Gefühl der Schuld nicht restlos beseitigen kann, das mit diesen zufälligen genetischen Mutationen buchstäblich seit Tausenden von Jahren einhergeht – die unterschwellige und vage Vermutung, dass es immer irgendeinen Grund gibt, wenn eine solche Behinderung passiert, dass es eine Strafe ist und als solche auch verdient. Europäische Ärzte im 16. Jahrhundert ordneten sie der Armut zu (so wie konservative Politiker in Nordamerika im letzten Jahrzehnt). Herodot bestand darauf, dass Deformationen dadurch verursacht wurden, dass man nicht hinreichend attraktive Partner geheiratet hatte. Martin Luther, der sich häufig wie ein Schwachsinniger benahm, glaubte, dass die Behinderten und Verkrüppelten Geschwister des Teufels waren, Wesen, die in der falschen Sphäre geboren waren, und dass man sie ertränken solle. Amy Hess war ein gebildeter und aufgeklärter Mensch im Zeitalter der Wissenschaft und des Fortschritts, aber der alte Fluch zeitigte dennoch Wirkung.
»Ich hatte ein sehr, sehr gesegnetes Leben«, erzählte mir Amy an einem strahlenden Morgen in Chicago. »Ich habe großartige Eltern. Großartige Freunde. Großartige Jobs. Großartige Schulen und Universitäten. Und ich dachte wirklich, jetzt bin ich dran.«
Amy ist eine Kämpferin. Es ist ein Glück für Daniel, dass sie das Ganze bewältigt hat, indem sie recherchierte. Sie gab ihren Job auf und verwandelte sich in eine Vollzeit-medizinische Detektivin. Sie hat ihn für eine endlose Anzahl von Therapien angemeldet – bis zu zehn in der Woche, vom Zeitpunkt, als er einen Monat alt war, bis zu seinem dritten Lebensjahr. Wobei das meiste vom staatlichen Programm für Frühförderung bei Kindern, die mehr als dreißig Prozent behindert sind, bezahlt wurde. »Er braucht jede Abwechslung, die er bekommen kann. Ich wollte nicht, dass er im entscheidenden Moment nichts
Weitere Kostenlose Bücher