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Der junge Seewolf

Titel: Der junge Seewolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Frank
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er den verschiedenen Gruppen zugewiesen. Latein und Französisch konjugierte und deklinierte David wie gewohnt, aber bei den Übersetzungen dauerte es doch einige Wochen, bis er nicht mehr seine Muttersprache einschob, sondern direkt ins Englische übertrug.
    Geographie faszinierte David nach einiger Zeit. Was er an verschwommenen Vorstellungen von fremden Ländern und Kontinenten besaß, wurde nun mit Anschauung und Leben erfüllt. Mr. Bell, ihr Geographielehrer, ließ sie den Spuren der Entdecker folgen, zeigte ihnen die Seewege auf großen Wandkarten und las Passagen aus den Forschungsberichten vor.
    Die Erzählung von Ansons Weltumsegelung und seiner reichen Beute fesselte David ungemein, und als er hörte, daß Anson Erster Lord der Admiralität geworden war und vor zwölf Jahren noch gelebt habe, wollte er eine Zeitlang Entdecker werden.
    Mr. Bell erzählte ihnen auch viel von den Menschen in fremden Kontinenten, und da er der ›Gesellschaft der Freunde‹, den Quäkern, angehörte, vermittelte er seinen Zöglingen kein durch Arroganz gefärbtes Bild, sondern weckte ihr Verständnis und Mitgefühl.
    Auch für die Physik, die sich Mr. Potter vorbehielt, die Lieblingswissenschaft im England dieser Zeit, konnte sich David erwärmen. Als er zum ersten Male erlebte, wie mit der Influenz-Elektrisiermaschine kleine Blitze erzeugt wurden, erschrak er sehr und ließ sich nur zögernd durch Mr. Potters Erklärungen überzeugen, daß es sich um ein natürliches Phänomen handele, das er elektrische Kraft nannte.
    Er erläuterte ihnen, daß der Blitz nach ähnlichen Prinzipien entstehe und wußte auch von einem gewissen Benjamin Franklin, der Vorrichtungen zur unschädlichen Ableitung des Blitzes vorgeschlagen hatte.
    Aber Mathematik war für David eine Qual. Er hatte so viel nachzuholen, daß er ohne die gelegentliche Hilfe seines Onkels und ohne Bill, einen lockenköpfigen Schulkameraden, der sein leichtes Stottern mit einem phänomenalen Verständnis für mathematische Zusammenhänge kompensierte, wohl nie mitgekommen wäre.
    Bill erklärte ihm manches besser als Mr. Dockrell, der Mathematiklehrer, und setzte seine Erklärungen auf dem Heimweg fort, den sie ein gutes Stück gemeinsam hatten. Manchmal besuchten sie sich auch in ihren Familien. David zeigte Bill dabei zwei Briefe, die ihm seine Eltern von der Reise und aus Prag geschrieben hatten und erzählte von seiner Heimat.
    Woche folgte auf Woche. David schien es manchmal, als lebe er schon ewig in Portsmouth. Er fand sich in den Straßen zurecht, viele kannten ihn, und in seiner Sprache unterschied er sich kaum noch von den Einheimischen.
    Anfang September war es, als seine unbeschwerte Welt zusammenbrach, zwei Wochen vor der geplanten Heimreise. Er kam aus der Schule, und kaum hatte der Türklopfer angeschlagen, da öffnete John schon. Aber er scherzte nicht wie sonst, nickte nur, sah weg und ließ David eintreten.
    Was mag er haben? dachte dieser und ging durch die Diele ins Wohnzimmer. Mit rotverweinten Augen, wie benommen, trat seine Tante auf ihn zu, umarmte ihn und rief mehrmals schluchzend seinen Namen.
    »Ist etwas mit Julie oder Henry?« fragte David erschrocken.
    »Nein, mein Junge«, erwiderte sein Onkel und löste David aus der Umarmung seiner Tante. »Wir haben eine traurige Nachricht für dich, du mußt jetzt sehr tapfer sein.«
    Er führte David zum Tisch, drängte ihn auf einen Stuhl und sagte: »Deine Mutter und dein Vater sind in den böhmischen Bergen tödlich verunglückt. Die Pferde sind durchgegangen, und die Kutsche ist in eine Schlucht gestürzt. Alle Reisenden waren tot.«
    David war unfähig zu begreifen. »Und wann kommen sie heim?« stammelte er.
    »Nie mehr, David, nie mehr!« antwortete der Onkel, und auch seine Stimme schwankte. »Deine Eltern sind tot.«
    Nun brach sich die Wahrheit Bahn. Sie sind tot! Es war, als ginge nur dieser Satz in seinem Kopf herum, der ganz leer und taub zu sein schien. Daß ihm die Tränen herunterrannen, merkte er nur daran, daß ihm der Onkel mit dem Taschentuch über Wangen und Mund fuhr. Weit entfernt sah er die lautlos schluchzende Tante.
    O Gott, dachte er verzweifelt, warum sind sie nicht bei mir geblieben? Warum haben sie mich nicht mitgenommen? In seiner Qual versuchte er, ihre Gesichter ganz deutlich vor sich zu sehen, aber sie verschwammen immer wieder. Ich habe ja nicht einmal ein Bild von ihnen, ging es ihm durch den Kopf, und ich werde sie nie, nie wiedersehen.

Bitte an Bord kommen zu

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