Der Kaffeehaendler - Roman
dachte Miguel bedrückt, wenn er diese Briefe öffnete. Dieses Mal war es anders, der kurz angebundene Ton und die unregelmäßige Handschrift beunruhigten ihn. Nur ein Verrückter würde eine solche Nachricht ohne Namen schicken – selbst wenn Miguel das Geld gehabt und selbst wenn er beabsichtigt hätte, das wenige, das er besaß, für etwas so Törichtes wie das Zurückzahlen von Schulden auszugeben, er wüsste nicht, an wen.
Hendrick glotzte, als ob er Miguels gutes, wenn auch mit starkem Akzent gesprochenes Holländisch nicht verstünde.
»Heute ist nicht der richtige Tag«, sagte Miguel mit mehr Nachdruck. Er vermied es, zu scharf mit Hendrick zu sprechen, den er einmal dabei beobachtet hatte, wie er den Kopf eines Metzgers auf die Steine des Damplatzes schmetterte, weil dieser Geertruid ranzigen Speck verkauft hatte.
Hendrick starrte Miguel mit jenem speziellen Blick an, den Männer des mittleren Standes höher Gestellten vorbehielten. »Madame Damhuis hat mir gesagt, ich soll Ihnen mitteilen, dass heute der richtige Tag ist . Sie sagt, sie will Ihnen etwas zeigen, und wenn Sie es erblicken, werden Sie Ihr Leben auf ewig in die Zeit vor diesem Nachmittag und die Zeit danach einteilen.«
Die Vorstellung, wie sie sich entkleidete, blitzte in ihm auf. Das wäre ein reizender Einschnitt zwischen Vergangenheit und Zukunft und gewiss eine Verschiebung seiner Angelegenheiten für den Nachmittag wert. Aber Geertruid liebte diese Spielchen. Es bestand kaum eine Chance, dass sie vorhatte, auch nur ihre Haube abzunehmen. Hendrick war jedoch nicht abzuschütteln, und so dringend Miguels Probleme auch sein mochten, er konnte keine Geschäfte machen, wenn dieser Holländer ihm auf den Fersen war. Das war schon öfter vorgekommen.
Er verfolgte ihn von Schenke zu Schenke, von Gasse zu Kanalufer, bis Miguel aufgab. Am besten war es, wenn er es rasch hinter sich brachte, befand er, deshalb willigte er seufzend ein, mitzukommen.
Mit einer knappen Drehung seines Halses deutete Hendrick die Richtung an, fort von der uralten Kopfsteinpflasterstraße und über steile Brücken auf den neuen Teil der Stadt zu, der umringt war von den drei großen Kanälen – der Herengracht, der Keizersgracht und der Prinsengracht -, und dann in Richtung Jordaan, das am schnellsten wachsende Stadtviertel, wo das Klingen der Hämmer auf Ambossen und das Raspeln der Meißel auf Stein widerhallte.
Hendrick geleitete ihn die Rozengracht entlang, wo Kähne sich durch den dichten Kanalnebel bohrten, während sie auf die Docks zusteuerten, um ihre Fracht zu entladen. Zu beiden Seiten des trüben Gewässers standen die neuen Häuser der neuen Reichen mit Blick auf den von Eichen und Linden gesäumten Schifffahrtsweg. Einst hatte Miguel den größeren Teil eines so schönen Hauses gemietet, aus rotem Backstein und mit Türmen auf dem Giebel. Doch dann hatte die brasilianische Zuckerproduktion seine Erwartungen bei weitem übertroffen. Seit Jahren hatte er auf niedrige Erträge spekuliert, aber plötzlich brachten brasilianische Bauern eine riesige Ernte auf den Markt, und die Preise fielen unverzüglich ins Bodenlose. Genauso schnell war er, eben noch ein großer Mann an der Börse, zu einem Schuldner geworden, der von den Almosen seines Bruders lebte.
Sobald sie von der Hauptstraße abgebogen waren, verlor der Jordaan seinen Reiz. Das Viertel war neu – wo sie standen, war vor dreißig Jahren noch Ackerland gewesen -, doch die Gassen hatten bereits das verfallene Aussehen eines Elendsviertels. Lehm ersetzte das Kopfsteinpflaster. Hütten aus Stroh und Holz lehnten sich an gedrungene, schwarz verrußte
Häuser. In den Gässchen pulsierte das hohle Klappern von Webstühlen, die die Weber von Sonnenaufgang bis spät in die Nacht betätigten, alle in der Hoffnung, genug zu verdienen, um sich einen weiteren Tag lang satt essen zu können.
In Augenblicken der Schwäche fürchtete Miguel, die Armut würde ihn endgültig heimsuchen, so wie sie die Erbärmlichen des Jordaan heimgesucht hatte; er würde in ein so tiefes Schuldenloch stürzen, dass ihm nicht einmal mehr der Traum bliebe, sich wieder zu fangen. Würde er dann noch derselbe Mann sein oder so blutleer werden wie die Bettler und unglücklichen Tagelöhner, an denen er oft vorüberging?
Er schwor sich, dass das nicht geschehen würde. Ein echter Händler gibt sich keiner düsteren Stimmung hin. Ein Mann, der verheimlichen konnte, dass er Jude war, würde immer einen Weg finden, um seine Haut zu
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