Der Kaffeehaendler - Roman
Seite der Stadt, weit weg von der Vlooyenburg, allein und ohne Begleitung, ohne Schleier. Was sollte sie Daniel sagen: dass sie überfallen worden war? Dass ein Rüpel ihr Schleier und Schal gestohlen hatte und weggelaufen war?
Vielleicht erlaubte sich das Mädchen nur einen Spaß. Bestimmt wartete sie jenseits der Gasse auf dem Oudezijds Voorburgwal, jenes schelmische Grinsen auf dem Gesicht. Sollte sie hinter Annetje herlaufen und ihr die Genugtuung verschaffen, dass sie sie erschreckt hatte, oder langsam schlendern und die Illusion von Würde aufrecht erhalten?
Sie marschierte los, aber sie marschierte schnell. Am anderen Ende der Gasse spazierten stattliche Männer und Frauen dahin, eine Gruppe von Kindern spielte lautstark mit einem Ball, und einige zerlumpte Jongleure hofften am Kanalufer auf ein paar Stuiver. Aber keine Annetje.
Dann hörte sie die Stimme des Mädchens, ihr Lachen. Sie war auf der anderen Seite der Gracht und lief auf den Zeedijk zu. Sie lachte und schwenkte den Schal in der Hand, als wäre er eine Siegesfahne.
Hannah schürzte ihre Röcke und lief ihr nach. Doch sie war
bald außer Atem, und ihre Lungen fingen schon nach wenigen Schritten über die steile Kanalbrücke an zu schmerzen. Männer starrten ihr verwundert hinterher, Kinder riefen ihr Schimpfwörter zu, die sie nicht verstand.
Annetje verlangsamte ihr Tempo, um Hannah an Boden gewinnen zu lassen, dann fing sie an, auf dem Zeedijk nach Süden zu laufen. Was beabsichtigte sie damit, in Richtung Nieumarkt zu rennen? In dem Teil der Stadt würden sie gewiss überfallen werden. Ein Überfall könnte allerdings Hannahs Rettung sein. Sie malte sich aus, wie sie blutend und mit blauen Flecken heimkehren und umsorgt statt bestraft werden würde. Also folgte sie dem Mädchen, das rannte und rannte und rannte. Und dann stehen blieb. Hannah hielt ebenfalls inne, sah, wie Annetje auf sie zukam, und als sie sich umdrehte, erblickte sie die Waage. Am südlichen Ende des Nieumarkts gelegen, markierte sie die Grenze zwischen rein und unrein, anständig und verderbt. Dies war kein Ort für die Ehefrau eines jüdischen Kaufmanns.
Als Annetje merkte, dass ihre Herrin stehen geblieben war, lachte sie laut und rannte den Weg zurück, den sie gekommen war. Tränen strömten über Hannahs Gesicht und sie verfluchte sich für ihre Schwäche. Renn nur, dachte sie voller Zorn, als sie das kleine Luder davoneilen sah. Renn lieber, denn wenn ich dich kriege, erwürge ich dich.
Sie sah sich schon dabei, wie sie ihre Hände um Annetjes schlanken Hals legte, und vergaß für einen Moment lang, wo sie war. Dann erwachte sie mit einem Ruck aus ihrer Träumerei und bemerkte, dass ihr Blick auf ein Gesicht gefallen war. Drüben bei der Waage war eine Frau in einem rot-schwarzen Kleid, dessen tiefer Ausschnitt ihren üppigen Busen enthüllte. Ein frecher kleiner Hut in Rot saß schräg auf dem Kopf, der vor aller Welt mit einem üppigen Schwall nussbrauner Haare protzte. Sie stand da im Gespräch mit zwei Männern, die im
Gegensatz zu ihr höchst seriös aussahen. Nein, diese Frau wusste nicht einmal, was Seriosität war.
Hannah schaute zu lange und zu eindringlich hinüber, und irgendwie spürte die Frau ihren Blick und erwiderte ihn. Und plötzlich wusste Hannah Bescheid. Es war Miguels Freundin, die Witwe.
Die funkelnden Augen der Frau waren auf die schüchtern dastehende Hannah gerichtet, und auch sie erkannte Hannah …
Mehr als das; sie begriff, dass Hannah nicht erkannt werden wollte und Hannah wusste, obwohl sie nicht hätte sagen können, warum, dass auch die Witwe in geheimer Mission unterwegs war.
Die Witwe lächelte Hannah an und hob dann in einer Geste der Verschwiegenheit einen Finger an ihre roten Lippen. Hannah sollte sie in ihren Träumen wiedersehen. Sie sollte sie sehen, wann immer sie die Augen schloss. Sie riss sich los und ging zurück zur Kirche, wo Annetje ihr ihre Sachen gab und sich in seichtem Geschwätz versuchte, als hätten sie einander nur geneckt wie kleine Mädchen.
Hannah stand weder der Sinn nach einem Gespräch, noch danach, Annetje zu verzeihen. Sie konnte nur an den Finger auf jenen Lippen denken. Es sollte einige Tage dauern, bis Hannah erfuhr, ob diese Geste ein Befehl oder ein Versprechen gewesen war.
9
Am Montag öffnete die Börse erneut, und Miguel näherte sich aufgeregt dem Dam. Er wusste nicht, ob seine Unruhe auf die Neugier auf den Geschäftsabschluss oder die drei Schalen Kaffee, die er heute Morgen
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