Der Kaffeehaendler - Roman
sie sie köstlich finden konnte.
Trotzdem, sie hatten etwas Angenehmes. Als sie die dritte Beere verspeist hatte, schien ihr der Geschmack bereits weniger bitter.
Sie hatte Schuldgefühle, weil sie Miguels Sachen durchstöbert und seine versteckten Beeren gegessen hatte, deshalb schreckte sie beim Anblick Annetjes zusammen, die sie mit einem verschmitzten Lächeln empfing, als sie wieder nach oben kam.
»Es ist bald Zeit zu gehen, Senhora«, sagte sie.
Hannah hatte gehofft, sie würde es vergessen. Wieso kümmerte es das Mädchen überhaupt, ob sie gingen oder nicht? Nun ja, Hannah wusste, wieso: Es verschaffte Annetje ein Gefühl von Macht. Es gab ihr die Möglichkeit, von Hannah noch
ein paar Gulden zu fordern oder sie zum Wegschauen zu bewegen, wenn Annetje ihre Zeit mit einem holländischen Burschen vertrödelte, statt sich ihrer Arbeit zu widmen.
Es gab auch in ihrer Nachbarschaft einen Ort, aber Hannah hatte nie gewagt, ihn aufzusuchen, nicht bei dem Menschengewimmel auf der Breestraat und dem breiten Gehweg auf ihrer Seite der Verversgracht. Die Gefahr, erkannt zu werden, war zu groß. Wenn sie gingen, gingen sie lieber hinunter zu den Docks gleich an der Warmoesstraat, wobei sie Umwege durch verwinkelte Straßen und über steile Brücken machten. Erst in einiger Entfernung von der Vlooyenburg, ein gutes Stück hinter dem Dam, wo sie die verfallenen, engen Gässchen des ältesten Teils der Stadt entlangspazierten, blieb Hannah stehen, um ihren Schleier und ihren Schal abzunehmen, immer auf der Hut vor Ma’amad-Spitzeln, die bekanntlich überall lauern konnten.
Das Verschleiern, war eine der größten Umstellungen in Amsterdam gewesen. In Lissabon hatte sie ihr Gesicht und ihr Haar ebenso offen zeigen können wie ihre Gewänder, aber als sie in diese Stadt umgesiedelt waren, hatte Daniel ihr gesagt, dass kein Mann je wieder ihre Haare sehen dürfe und sie in der Öffentlichkeit ihr Gesicht verhüllen müsse. Später erfuhr sie, dass es kein jüdisches Gesetz gab, das von Frauen verlangte, ihr Gesicht zu verstecken. Der Brauch stammte von den Juden Nordafrikas und war hier übernommen worden.
Hannah aß unterwegs verstohlen ein paar Kaffeebohnen, während Annetje eilig voranging. Inzwischen hatte sie bereits mehr als ein Dutzend verspeist und fand sie allmählich wohlschmeckend, fast beruhigend, und sie bedauerte, dass ihr kleiner Vorrat bald aufgebraucht sein würde.
Kurz bevor sie ankamen, half ihr Annetje, eine schlichte weiße Haube aufzusetzen, und sogleich war sie nicht mehr von einer Holländerin zu unterscheiden. Mit entblößtem Gesicht
und offenem Haar ging Hannah nun auf die Straße zu, die zum Oudezijds Voorburgwal führte, dem Kanal, der nach der alten Stadtmauer benannt war. Und da war es. Mehrere Häuser waren zu einem Ensemble zusammengefasst, das schön, wenn auch nach Lissaboner Maßstäben schäbig war, und obgleich die Straße nicht weit entfernt von den gefährlichsten Vierteln Amsterdams lag, wirkte hier alles still und beschaulich. Prachtvolle Eichen säumten die Gracht zu beiden Seiten, und Männer und Frauen spazierten in ihrem Sonntagsstaat an ihr entlang. Eine kleine Gruppe von Herren hatte sich in ihren blauen, gelben und roten Anzügen versammelt, ungeachtet der Tatsache, dass die Reformierte Kirche auffällige Farben missbilligte. Ihre Ehefrauen trugen juwelenbesetzte Kleider mit schimmernden Seidenmiedern und funkelnde Hauben; sie redeten laut, lachten und klopften einander auf die Schultern.
Immer noch im Schlepptau von Annetje, stieg Hannah in den dritten Stock, der zu einem einzigen Raum umgebaut und in eine heilige Stätte umgewandelt worden war. Die großen Fenster ließen das milde, von Wolken gefilterte Licht ein, zusätzlich wurde die Kirche von unzähligen Kerzen, die auf den Lüstern flackerten, erhellt. Gemälde zierten die Wände: Christus am Kreuz, die heilige Veronika mit dem Schweißtuch, der heilige Johannes in der Wüste. Früher hatten sie ihr Trost gespendet, ihr ein Gefühl der Vertrautheit vermittelt, aber seit kurzem überkam sie ein Unbehagen, als hätten sich diese Heiligen mit Annetje verschworen.
Die Bürgermeister hatten den Katholizismus in Amsterdam zwar nicht für illegal erklärt, doch seine Anhänger durften den Glauben nur privat ausüben, und die Kirchen durften von au ßen nicht als solche erkennbar sein. Das Innere konnte so opulent ausgestattet sein, wie es den Katholiken gefiel, und die reichen Kaufleute der katholischen Gemeinde
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