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Der Kaiser des Abendlandes

Der Kaiser des Abendlandes

Titel: Der Kaiser des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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wieder irgendwo und beobachtete Mariam und alle anderen. Der schicksalhafte Augenblick rückte mit jedem Schritt, den Sean auf Abu Lahab zu machte, näher.
    »Salaam«, sagte Sean. Abu Lahab grüßte zurück, hob die Hand und wies zur Sonne.
    »Mittag.« Er nickte grinsend. »Die Christen sind pünktlich, sagt man.«
    Einige Atemzüge später öffnete sich das schmale Tor der Mauer. Ein hochgewachsener Mann mit nackenlangem Haar und grauen Augen trat heraus. Er blickte sich um und ging auf Abu Lahab und Sean zu.
    Die Männer begrüßten sich, und Abu Lahab sagte leise und schmeichelhaft: »Das ist Wesir Nicolaus, ein Christ wie Ihr, Sasa Dentrevez. Zeigt uns nun Eure schöne Tochter, denn der Wesir ist begierig, sie heimzuführen.«
    Als sich Dentrevez umdrehte, kamen nacheinander zwei unverschleierte Frauen aus dem Garten. Die Dienerin oder Erzieherin war dreißig bis fünfunddreißig Jahre alt und trug ein bodenlanges blaues Gewand. Ihr Haar war im Nacken zu einem dicken Knoten zusammengefasst, und an den Schläfen zeigten sich erste feine graue Streifen. Hinter ihr trat Mariam auf den Platz hinaus.
    Als Sean sie sah, verstand er seinen Freund und alles, was dieser für die junge Frau empfand, sofort. Mariam war eine überwältigende Schönheit mit leuchtenden grünen Augen und hellbraunem, sanft gewelltem Haar, das fast bis zu ihren Hüften reichte. Ihr Vater nahm sie bei der Hand und zog sie in den Schatten, zu Abu Lahab und Sean. Die beiden Männer starrten die junge Frau bewundernd an. Sean fühlte sein Herz schneller schlagen, seine Lippen waren trocken geworden.
    »Sieh die wunderschöne Jungfrau Mariam, Nicolaus, mein Freund«, säuselte Abu Lahab.
    Dentrevez wirkte unsicher; er schien nicht recht zu wissen, was er von diesem Treffen halten sollte.
    »Du erhältst sie und eine prächtige Mitgift«, fuhr Abu Lahab fort, »und auch Ihr, Dentrevez, sollt nicht leer ausgehen.«
    Seans Blick glitt über die schlanke Gestalt und blieb auf dem schmalen Gesicht haften. Die grünen Augen musterten ihn prüfend, aber nicht feindselig. Mariam war fast so groß wie er selbst.
    Sobald Sean seine Sprache wiedergefunden hatte, sagte er: »Eure Tochter, Herr, ist von bezaubernder Schönheit. Sie ist die schönste Blume in Allahs Paradiesgarten. Es wäre mir eine Freude, sie kennen zu lernen. Und ohne Zweifel werden wir lernen, uns zu lieben.«
    Mariam lächelte, doch die Art ihres Lächelns war nicht zu deuten. Nach einigem Zögern warf sie einen abschätzigen Blick auf Abu Lahab und sagte in fast fehlerfreiem Arabisch, mit klarer Stimme und laut genug, dass es wohl auch Suleiman in seinem Versteck hören konnte: »Die Blume aus Allahs Garten, junger Wesir, ist seit langer Zeit gepflückt und wird nicht mehr blühen. Ich habe mich bereits einem jungen Mann hingegeben. Sein Name tut nichts zur Sache, nicht einmal mein Vater kennt ihn, und so werde ich ihn auch Euch nicht nennen.«
    Sasa Dentrevez schüttelte verwirrt den Kopf.
    Abu Lahab entglitten die stolzen und überheblichen Gesichtszüge. Er erbleichte und murmelte etwas Unverständliches.
    Sean besann sich seiner Rolle, trat drei schnelle Schritte zurück und sagte in unversöhnlichem Tonfall: »Ich bin enttäuscht und empört, o Effendi. Du hast mir eine jungfräuliche Schönheit versprochen, und was sehe ich vor mir?«
    Er glaubte, ein kurzes, triumphierendes Lächeln in Mariams Gesicht aufblitzen zu sehen. Aber nach seinen Worten senkte sie den Kopf, ließ die Hand des Vaters los und rannte zum Tor. Die Dienerin folgte ihr unmittelbar darauf.
    Abu Lahab riss die Arme in die Höhe, stampfte mit dem Fuß auf und rief unterdrückt, fast stotternd: »Man hat mich getäuscht, Nicolaus! Auch ihren Vater hat sie getäuscht! Vielleicht hat dieser junge Schurke sie sogar geschwängert! Nun – aus der Mitgift wird nichts, Dentrevez! Komm, Nicolaus, wir gehen!«
    Er ließ den verwirrten Vater stehen, packte Sean am Handgelenk und zerrte ihn mit sich. Hinter ihrem Rücken fiel das Tor der Gartenmauer mit lautem Krachen und klirrenden Riegeln zu.
    Nach einigen Dutzend Schritten sagte Abu Lahab voller Gehässigkeit: »Diese Mariam, die mein Sohn begehrt, ist ein ausgekochtes Weibsstück! Sie hat alle betrogen. Und jetzt stehe ich, auch vor dir, mit leeren Händen da. Ich muss nachdenken. Doch zumindest kann ich wegen Suleiman beruhigt sein. Er wird schon sehen, wie sehr er sich in dieser verwelkten Blume getäuscht hat!«
    »Zweifellos wird ihn diese Einsicht zutiefst

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