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Der Kalligraph Des Bischofs.

Der Kalligraph Des Bischofs.

Titel: Der Kalligraph Des Bischofs. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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Störung?
    Mehr Tränen flossen. Er rutschte vom Schemel und kniete sich hinter sein Pult. »Herr, guter Herr Jesus, vergib mir! Ich hätte
     das Tier nicht mit in die Kirche bringen sollen. All die Jahre habe ich dich entehrt und wußte es nicht einmal.« Der Schreiber
     holte zitternd Luft und atmete langsam aus. »Ich danke dir, daß du es mir heute gezeigt hast. Ich will nicht klagen, daß es
     ausgerechnet die Bischofsweihe sein mußte. Nur hilf mir, die Strafe recht zu tragen. Ich bin es gewohnt, ausgelacht zu werden.
     Aber ich fürchte mich vor dem Zorn des Bischofs. Gib mir Kraft zur Reue, Herr! Gib mir eine gerechte Strafe, und hilf mir
     auch, irgendwann wieder Frieden zu finden.« Biterolf schwieg lange, in der Hoffnung, im Herzen eine Bestätigung Gottes zu
     fühlen. Er schloß sein Gebet leise: »Ich vertraue dir, Herr.« Dann erhob er sich, warf Farro einen mahnenden Blick zu und
     verließ die Schreibstube.
     
    Er vermied es, über den freien Platz zu laufen. Die Türen der Gästeschlafräume passierend, ging er im Schatten zum Tor. Turins
     Straßen würden leer sein, die Menschen waren in den Kirchen, wie es sich gehörte. Aber vielleicht würde die Stille der Stadt
     es ihm ermöglichen, Ordnung in seine Gedanken zu bringen.
    Zwischen den Häuserreihen sah Biterolf die weißen und blauen Zacken der Berge. Sie gehörten zu Turin wie der gewundene Flußarm
     des Po. Die Häuser schienen sich zum Schutz neben das mächtige Gebirge zu stellen, als wären |57| die Alpenzüge ein dichter Wald, in den man bei Gefahr fliehen konnte. Biterolf erinnerte sich, wie er als junger Mann über
     die Alpen gereist war, um in Sankt Gallen die neue Schrift zu lernen, die Kaiser Karl seinem Reich geboten hatte. Erst seit
     dieser beschwerlichen Reise konnte er die Größe der Berge richtig einschätzen. Hinter dem Kamm, der jetzt sichtbar war, folgten
     weitere, immer wieder von Tälern unterbrochen, so lange, daß man sich als Reisender irgendwann fragte, ob es bis an das Meer
     im Norden mit den Bergen so weiterging.
    Ach, die neue Schrift. Noch heute unterlief es Biterolf bisweilen, daß er das r lang unter die Zeile zog, wie es früher gewesen
     war. Ansonsten gefiel ihm die Schreibweise Karls. Die Zeilen lagen dichter aneinander, es gab nicht mehr die keulenartig ausgezogenen
     Ober- und Unterlängen der Buchstaben, die den Text auseinandertrieben, sondern sehr ordentliche, in klaren Reihen stehende
     Zeichen. Auch Versalien am Satzbeginn waren eine gute Erfindung oder das Markieren von Abschnitten durch Punkte. Viel Gutes
     hatte Kaiser Karl gebracht.
    Das kaiserliche Siegel trat Biterolf vor Augen. Es strömte das Gefühl von Ordnung aus, nach dem er sich im Moment so sehnte,
     während in ihm alles zerwühlt war und schmerzte:
Dominus Noster Karolus Imperator Pius Felix Pater Patriae Augustus
– Unser Herr, Karl, der Fromme, der Glückliche, der Vater des Vaterlands, der Augustus. Pius, »der Fromme«, so nannten sie
     Ludwig auch, den Sohn und neuen Kaiser.
    Biterolf merkte nicht, wohin er lief. Er folgte einfach den stillen Gassen, durch die ihn seine Füße trugen. Sah er an einer
     Kreuzung länger in eine Straße hinein, so betrat er diese; war er sehr in Gedanken versunken, bog er nicht ab und blieb seinem
     Weg treu. In den Werkstätten der Schmiede herrschte Schweigen, die Tröge der Färber vor den Hütten waren leer; nur noch der
     rote Ton des Holzes verriet ihre Tätigkeit der vergangenen sechs Tage. Die Krämer hatten die Türen fest verschlossen, die
     Fensterläden verrammelt. Turin |58| schien zu schlafen. Nur von den Kirchen hörte der Notar leises Singen, aber er mied ihre Nähe. Sie war ihm heute verboten.
    Dann, durch alle Stille, drang ein Poltern an Biterolfs Ohren. Er beschleunigte seine Schritte und bog um die Ecke, hinter
     der es ausgelöst worden sein mußte. Augenblicklich blieb er stehen. Seine Augen trafen die eines anderen Menschen. Dieser
     stand im ersten Stockwerk zwischen zwei Fenstern, den einen Fuß auf dem Sims des ersten, den anderen Fuß im Rahmen des zweiten
     Fensters, die feinen, langen Finger an die Fensterläden geklammert. Seine Kleidung war zerrissen und zu kurz, um den ausgemergelten,
     sehnigen Körper zu bedecken. Halblange, dunkelblonde Haare fielen dem Mann in den Nacken. Das Gesicht war jung. Große, braungelbe
     Augen, aufmerksam und kühl wie die einer Eule, sahen Biterolf entgegen.
    Keiner der beiden Männer rührte sich.
Ein Dieb.
An jedem anderen Tag

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