Der Kalligraph Des Bischofs.
müssen.
Er erhob sich und schleuderte die Münze in den Fluß.
Eine Umarmung könnte ihn wieder zum Leben erwecken,
sagte eine verzerrte Stimme in Germunt. Tropfen fielen auf Simons Gesicht, als er sich neben den Hageren kniete.
Germunt wollte sich entschuldigen, aber er konnte nur die Hand Simons ergreifen und sanft drücken. Es dauerte eine lange Weile,
bis er flüsterte: »Ich lasse dich nicht allein.«
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|72| 6. Kapitel
Der Griffel schabte ein Ohr auf das Wachs. Sorgfältig deutete er eine Schädelkurve an, dann folgte das zweite Ohr. Ein Auge
grub sich tief in die matt schimmernde Fläche. Eine Schnauze wurde hineingeritzt, dann folgten zwei Beine, ein Bauch, wieder
zwei Beine. Für den Rücken reihten sich mehrere kleine Striche aneinander. Das Talglicht begann, wild zu flackern, und der
Griffel wartete über dem Wachstäfelchen, bis es sich beruhigt hatte. Dann ergänzte er einen Schwanz.
»Erkennst du eine Ähnlichkeit?« Biterolf hielt Farro das Bild vor die Schnauze. Die müden Hundeaugen des liegenden Tiers sahen
abwechselnd auf das Täfelchen und auf seinen Schöpfer. »Das bist du, mein Bester.«
Biterolf legte sich das Wachs wieder zurecht und ritzte mit dem Griffel einen großen Kasten hinein, gleich neben dem Hund.
Er ergänzte ein Dach und ein Kreuz. Erneut präsentierte er Farro die Zeichnung. »Ist der Hund in der Kirche, Farro? Na?« Der
schwarze Hütehund legte den Kopf auf die Vorderpfoten und schloß die Augen. »Auch wenn du es nicht sehen möchtest: Er ist
nicht in der Kirche. Du wirst mich in der Zukunft nicht mehr dorthin begleiten.« Nun drehte Farro den Kopf weg von Biterolf.
Er hielt weiter die Augen geschlossen.
»Du hast keinen Grund, beleidigt zu sein. So viele Jahre hattest du das Vorrecht, in der Kirche den Gottesdiensten beizuwohnen.
Zeige mir ein Tier in Turin, das mehrmals im Jahr in der Kirche war, was sage ich, das überhaupt jemals in der Kirche war.«
Biterolf sah noch einen Moment erwartungsvoll zu |73| Farro hinab, als würde dieser gleich eine Antwort geben, dann drehte er sich zum Pult um. Über dem Talglicht ließ er die Wachsoberfläche
des Täfelchens zerfließen und wechselte geschickt so oft dessen Lage, bis das Wachs ohne jede Erhebung oder Vertiefung und
bereit für neue Entwürfe war. Sorgfältig vermied er, die noch zähflüssige Fläche zu berühren, und legte es zurück in den Schrank.
»Ich weiß noch nicht einmal, ob ich mich dort wieder blicken lassen darf.« Er sprach leise, aber Farro schien die Anspannung
in Biterolfs Stimme zu spüren. Der Hunderiese öffnete die Augen und hob den Kopf. Biterolf lief zu ihm hinüber und ging in
die Hocke. »Warum, Farro? Du knurrst niemals ohne Grund. Warum hast du ausgerechnet gestern in der Kirche Laut gegeben? Haben
dich die vielen Fremden unruhig gemacht? Aber warum hast du dann unentwegt zu Ademar hinübergesehen? Hat er dich mit Grimassen
gereizt?« Farro leckte seinem Herrn die Hände.
»Sie haben heute ein großes Festmahl gehalten. Vielleicht war es gut, daß ich nicht teilgenommen habe. Morgen aber werde ich
Ademar zur Rede stellen.« Biterolf rieb dem Hund die Ohren und strich ihm in langen Zügen über das Fell.
Noch einen Moment kraulte er Farro den Nacken, dann erhob er sich, murmelte ein »gute Nacht« und löschte das Talglicht. Biterolf
bemühte sich, die Tür der Schreibstube leise zu schließen – er wußte genau, wann ihre Angeln kreischen würden –, und lief
auch die hölzernen Stufen zum Schlafsaal mit Bedacht hinauf. Bei seinem Körperumfang war es nicht einfach, über altersschwaches
Holz zu schleichen. Auf den oberen Stufen hörte er schon lautes Schnarchen hinter der Tür und schüttelte den Kopf. »Wozu bemühe
ich mich, leise zu sein? Sie haben viel getrunken, der Wein hält ihre Lider geschlossen.«
Wie erwartet, fand Biterolf Ademar am nächsten Morgen in der Kirche. Er kehrte mit einem Reisigbesen den Schmutz |74| zusammen, den zahlreiche Füße hineingetragen hatten. Ein kurzer Blick zeigte, daß er Biterolfs Anwesenheit bemerkt hatte,
aber er setzte die Arbeit schweigend fort.
»Ademar, ich will die Wahrheit wissen: Was hast du getan?«
»Was willst du, Biterolf? Es ist doch alles blendend gelaufen. Claudius ist Bischof, dein Hund hat mich bloßgestellt, und
mein Vater hat keinen Auftrag bekommen. Gibt es einen Grund dafür, daß wir uns unterhalten sollten?«
Einige Augenblicke verschlug es Biterolf die Sprache.
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