Der Kalligraph Des Bischofs.
sondern mußte mit der Feder über das Schriftstück schweben, was
für Germunt anfangs sehr anstrengend war. Es kam aber der Tag, an dem er seine erste wirklich sinnvolle und benötigte Urkunde
schrieb. Biterolf war mit allerlei schriftlich zu fassenden Rechtsvorgängen völlig überlastet, und so reichte er seinem Schüler
die hastig in eine Wachstafel gekratzten Stichworte. »Macht eine gute Urkunde daraus, Germunt. Der Bischof möchte sie heute
noch siegeln.«
Es wurde still in der Schreibstube. Nur das leise Schaben der Gänsekiele auf gegerbter Ziegenhaut war zu hören. Wieder und
wieder schob Germunt die Worte in seinem Kopf hin und her:
»Der Bischof von Turin besitzt bei Novalesa einen Herrenhof mit Wohnhaus und anderen Nebengebäuden in ausreichendem Maß. Er
nennt dort
3
Schläge Ackerland, die mit Saatgut von
400
Scheffel Getreide bebaut werden können, sein Eigen. Er besitzt dort
41
aripenni Weinberge« –
dieses Wort schrieb er besonders sorgfältig
–, »von denen
300
Scheffel Weintrauben gelesen werden können. Er besitzt dort
43
aripenni Wiesen, von denen
120
Fuder Heu geerntet werden können.
Er besitzt dort Wald, der insgesamt auf
15
Meilen im Umkreis geschätzt wird, in dem
1000
Schweine gemästet werden können. Er besitzt dort eine Mühle, die einen Zins von
30
Scheffeln Getreide erbringt. Er besitzt dort eine Kirche.
|119|
Der Kolone Wulfard und seine Frau, eine Freie namens Ermoara, leben dort auf einem dem Herrenhof unterstellten Gut. Sie haben
bei sich
3
Kinder mit diesen Namen: Wulfric, Aldeberga, Wulfger. Wulfard bewirtschaftet
11
bunuria Ackerland,
2
aripenni Weinberg, 3 ½ aripenni Wiesen. Er zinst für den Kriegsdienst
10
Scheffel Wein, für die Schweinemast
3
Scheffel und ein Schwein im Wert von
1
Schilling. Er pflügt für die Wintersaat
6
perticae, zur Frühjahrssaat
3
perticae. Bittfrontage, Holzschlag, Hand- und Spanndienste leistet er, so viel ihm befohlen wird. Er liefert
3
Hühner und
15
Eier. Er transportiert Wein, wohin ihm befohlen wird. Er liefert
100
Schindeln. Er mäht auf einer Wiese
1
aripennum.
Dieses genannte Gut soll samt allen genannten Einnahmen dem Langobardenherren Kildeoch zufallen und ihm gehören bis zu seinem
Tode. Danach geht es zurück in die Hände des Bischofs von Turin.«
Er hörte Biterolf hinter sich treten. Germunt setzte den Punkt, drehte sich um und sah den Notar nachdenklich seinen Mund
spitzen. Worauf schaute er so angestrengt? War etwas nicht in Ordnung? Germunt starrte eine Weile in unsicherer Erwartung
auf Biterolfs Gesicht. Dann sah er ein leichtes Nicken, eine anerkennend geschürzte Lippe. »Germunt, ob Ihr es glaubt oder
nicht: Ihr habt Talent.«
»Woran erkennt Ihr das?«
Schweigend deutete der Notar auf den Versal, den großen Anfangsbuchstaben, den Germunt zu Beginn des Textes gezeichnet hatte.
Germunt hatte seinen Bögen einen besonderen Schwung gegeben, ihn mit zarten Strichen durchquert und mit vier kleinen Schlaufen
verziert. »Zum Beispiel daran.«
»Das ›D‹ sah so nackt aus, ich weiß nicht …« Germunt war immer noch nicht sicher, ob Biterolf sein Lob ernsthaft gesprochen
hatte. »Meint Ihr, Claudius findet es kindisch? Sollte ich noch einmal von vorn beginnen?«
»Nicht kindisch. Kunstvoll.«
|120| Germunt fühlte sich, als hätte er einen Krug warme Honigmilch getrunken.
Ich fange an, diese Arbeit zu mögen,
dachte er lächelnd.
* * *
Für einige Augenblicke wußte Biterolf nicht, wo er war. Es war stockfinster und roch nach kaltem Talg und nach Pergamenten.
Das Genick tat ihm höllisch weh. Während er es betastete, begriff er, daß er lesend eingeschlafen war. Er saß auf dem Boden
der Schreibstube, auf dem Schoß ein dickes Buch. Das Talglicht mußte längst verloschen sein; der Docht glomm nicht.
Er wiegte den Kopf, stöhnte leise.
Du wirst alt, Biterolf.
Was hatte er da eigentlich gelesen? Eine von Claudius’ Schriften? Nein, es war Cyprian gewesen, über die Einheit der Kirche.
Mit Strenge drückte er sich das Buch an die Brust und erhob sich. Er räumte es an seinen Platz im Regal, ohne ein Licht zu
entzünden, dann schob er die Tür der Schreibstube auf und ging in Richtung Stall. Natürlich schliefen schon alle.
Als er die Treppe zum Schlafsaal erreichte, hörte er vom Hof einen zitternden Atem, ein stimmloses Schluchzen. Biterolf preßte
den Rücken gegen die Stallwand und starrte in die Dunkelheit. Daher, von den Bäumen am
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