Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kalligraph Des Bischofs.

Der Kalligraph Des Bischofs.

Titel: Der Kalligraph Des Bischofs. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
Vom Netzwerk:
Palast, war es gekommen.
    Du gehst jetzt rauf und legst dich schlafen,
befahl er sich. Er blieb stehen.
    Wieder das stoßweise Atmen, das Schluchzen.
    Auf keinen Fall gehst du dorthin.
Sein Körper löste sich von der Wand. Vorsichtig setzte er Fuß vor Fuß.
    Noch lange nachdem die Augen das Bild erfaßt hatten, weigerte sich Biterolfs Verstand, das Gesehene aufzunehmen.
    Der Bischof kniete vor einem Baum.
    Den Arm über dem Kopf, stützte er sich am Stamm ab. |121| Daß er stoßweise atmete, zeigten die breiten, zuckenden Schultern. Mit der freien Hand raufte sich Claudius die Haare.
    Biterolf stand wie versteinert.
Wie unglücklich muß ein Mensch sein, daß er so weint?
    Der Bischof löste sich vom Baum, starrte den Stamm an.
    Dann bewegte er sein Gesicht langsam näher. Näher.
    Näher.
    Biterolf sah im Sternenlicht die tränennassen Wangen des Bischofs. Er sah die bebenden Lippen. Er sah die Rinde. Sie berührten
     sich.
     
    Als der Notar sein Bettlager unter sich fühlte, konnte er nicht sagen, ob er wirklich die Stufen zum Schlafsaal hinaufgelaufen
     war. Er wußte auch nicht, ob er geträumt hatte oder ob das, was er gerade gesehen hatte, in Wirklichkeit geschehen war. In
     jener Nacht entschied sich Biterolf, es für einen Traum zu halten.

[ Menü ]
    |122| 10. Kapitel
    Der Frühling brachte Tage, an denen Germunt Dinge lernte, von denen er noch nie etwas gehört hatte oder die für ihn ein großes
     Geheimnis gewesen waren.
    An einem milden Morgen hob der Notar ein Brett und einen Lederbeutel mit klapperndem Inhalt aus einer Truhe. Das Brett war
     an allen vier Seiten gleich lang und wurde von einer Linie in zwei Hälften unterteilt. »Ein Abacus«, erklärte Biterolf. Aus
     dem Ledersack schüttete er kleine Scheiben auf den Tisch. Sie trugen Verzierungen, in denen Germunt bald die Zahlen I, II,
     III, IV, V, X, L,C, D und M erkannte, die er mit dem Alphabet gelernt hatte.
    »Wofür ist das gut? Damit man sich viele Zahlen merken kann?«
    »Nein. Zum Rechnen.« Ohne Erklärung legte Biterolf eine V in das obere Feld, eine III auf die Linie und eine II in das untere
     Feld. »Erkennt Ihr den Sinn?«
    Lange starrte Germunt auf das Brett und die Scheiben. Dann mußte er lächeln. »Wenn man fünf hat und drei abgibt, bleiben zwei!«
    »Sehr gut. Das ist Arithmetik. Dieses Rechenbrett kann dabei helfen.«
    Es folgten so viele Aufgaben, daß Germunt bald der Kopf heiß und dumpf wurde.
    An einem anderen Tag fragte Biterolf ihn mit einem listigen Blick: »Wenn Ihr Eure Hände benutzen sollt, um mir die Zahl vier
     zu zeigen, was würdet Ihr tun?«
    Germunt hielt vier Finger in die Höhe.
    »Wunderbar. Wie bedeutet Ihr jemandem acht Ochsen, der eine fremde Sprache spricht?«
    |123| Germunt zog die andere Hand hinzu und zeigte acht Finger.
    »Er versteht Euch. Was aber, wenn Ihr ihm 36 Schafe abkaufen möchtet?«
    »Ich …« Germunt grübelte. »Dann zeichne ich 36 Striche in den Sand.«
    »Ihr befindet euch auf einer Felsplatte.«
    »Dann suche ich mir 36 kleine Äste.«
    Biterolf hob eine Augenbraue. »So? Nehmen wir an, Euer Herr baut ein Haus und schickt Euch, 400 Nägel zu kaufen. Sucht Ihr
     Euch so viele Zweige im Wald?«
    »Wieso können diese dummen Fremden nicht meine Sprache lernen?«
    Biterolf lachte. »Seht her, es ist ganz einfach. Man kann jede Zahl mit den Händen darstellen, bis zum Zehnfachen von Hunderttausend.
     Macht es mir nach!«
    Erstaunlich, wie behende der Notar seine Finger bewegt,
dachte Germunt.
Trotz seines großen Körperumfangs hat er flinke, feine Hände.
Biterolf war einer jener dicken Menschen, die sich’s zufrieden sind und nicht durch lautes Schnaufen über ihre Körperfülle
     klagen. Irgendwie fand Germunt Gefallen an dem Notar, der einen so selbstverständlichen, genügsamen Eindruck machte. Er war
     wirklich ein umgänglicher Mensch.
    Darüber täuschte auch nicht das Gesicht hinweg, das Ähnlichkeit mit dem eines trotzigen Kindes hatte. Biterolfs Mund wirkte
     stets, als schürze er die Lippen. An den Rändern war der Mund schmal, die Unterlippe wölbte sich aber schnell nach vorn und
     war prall wie eine Kirsche, die am ersten heißen Sommertag aufplatzen würde.
    Während er seinem Schüler die Zahlen zeigte, glänzten Biterolfs Augen, strahlten die tiefgrünen Ringe in den braunen Seen.
    »Germunt, was ist los? Habt Ihr aufgegeben?«
    »Es geht ein wenig zu schnell. Verzeiht.«
    »Zu schnell? In ein paar Wochen werdet Ihr lernen, wie |124| man Grundstücke

Weitere Kostenlose Bücher