Der kalte Hauch der Nacht - Inpektor Rebus 11
Tochter Sammy, die seit einem Unfall mit einem flüchtigen Autofahrer an den Rollstuhl gefesselt war. Für Rebus war Weihnachten das Fest der verlogenen Familienzusammenkünfte und der Illusion, dass in der Welt alles zum Besten stehe. Die mit Lametta und allerlei Nippes begangene Geburtstagsfeier eines Menschen, die nur mit dreisten Lügen und Alkohol überhaupt zu ertragen war.
Oder vielleicht lag es ja auch an ihm.
Er ließ sich Zeit beim Durchsehen der Papiere und machte mehrere Kaffeepausen. Zum Rauchen ging er auf den Hinterhof. Stinklangweilige Geschäftskorrespondenz befand sich in den Unterlagen. Zeitungsausschnitte, Immobilienanzeigen, einige davon mit einem Stift eingekreist, andere mit doppelten Fragezeichen am Rand versehen. Die Anmerkungen auf den Papieren waren immer in ein und derselben Schrift geschrieben. Also war klar, dass Freddy Hastings seinen Laden ganz allein betrieben und keine Sekretärin beschäftigt hatte. Und wie passte nun Alasdair Grieve in das Bild? Besprechungen: Alasdair war bei solchen Besprechungen offenbar immer dabei gewesen – und bei Geschäftsessen ebenfalls. Vielleicht hatte er nur die Honneurs gemacht und das Unternehmen mit seinem Namen geschmückt. Cammos Bruder, Lornas Bruder, Alicias Sohn – mit einem solchen Menschen gingen potentielle Kunden natürlich gerne essen.
Er ging wieder hinein, um sich aufzuwärmen und den nächsten Ordner durchzusehen. Und dann wieder eine Tasse Kaffee und ein kleiner Ausflug nach unten, um ein wenig mit den Kollegen von der Nachtschicht zu plaudern. Einbrüche, Schlägereien, Familienkräche. Gestohlene Autos, Vandalismus. Alarmanlagen, die plötzlich losheulten. Eine Vermisstenanzeige. Ein Patient, der, nur mit einem Pyjama bekleidet, aus dem Krankenhaus verschwunden war. Autounfälle. Spiegelglatte Straßen. Eine Vergewaltigung, ein Mordversuch.
»Ruhige Nacht«, sagte der Dienst habende Beamte.
Kameraderie in der Nachtschicht. Ein Beamter gab Rebus ein Sandwich ab. »Ich nehme immer mehr zu essen mit, als ich brauche.« Salami und Salat auf Vollkornbrot. Orangensaft könne er auch haben, sagte der Mann, doch Rebus schüttelte nur den Kopf.
»Das Brot ist völlig genug«, sagte er.
Oben an seinem Schreibtisch machte er sich dann wieder Notizen und markierte besonders wichtige Blätter mit Post-it-Aufklebern. Die Uhr an der Wand zeigte fast Mitternacht. Er griff in die Tasche seines Jacketts und befummelte seine Zigarettenschachtel: nur noch eine übrig. Damit war die Sache entschieden. Er schloss die Ordner in seinen Schreibtisch ein, zog seinen Mantel an, ging nach draußen und marschierte zur Nicolson Street. Es gab dort ein paar Läden, die die ganze Nacht geöffnet hatten, drei oder vier insgesamt. Auf seiner Einkaufsliste standen Zigaretten und ein kleiner Imbiss, vielleicht noch was zum Frühstück morgen Früh. Auf der Straße herrschte reges Treiben: eine Gruppe Teenager, die verzweifelt ein Taxi suchten, Leute auf dem Heimweg, die eine Packung mit etwas Essbarem an sich pressten. Und am Boden: schmierige Verpackungen, Fleisch-und Tomatenreste, zertretene Pommes frites. Ein Krankenwagen raste mit zuckendem Blaulicht ohne Sirene vorbei, eine fast gespenstische Erscheinung in dem allgemeinen Lärm. Überschnappende Stimmen Betrunkener. Und auch festlich gekleidete Menschen, die gerade aus dem Festival Theatre oder aus der Queen's Hall kamen.
Gruppen junger Leute, die in Hauseingängen oder an Straßenecken herumlungerten. Sie sprachen leise und beobachteten das Treiben ringsum. Rebus kam die Situation nicht ganz geheuer vor. Überall witterte er kriminelle Absichten. Oder waren die Zecher, die sich auf der Straße herumtrieben, schon immer so merkwürdig gewesen? Nein, fand er nicht. Die Stadt veränderte sich zu ihrem Nachteil, und über diesen Umstand vermochten auch alle noch so eleganten Glas-Beton-Paläste nicht hinwegzutäuschen. Die alte Stadt starb langsam dahin… tief verletzt durch diese anonyme Gleichgültigkeit, diesen mangelnden Respekt vor Straßen und Plätzen, Nachbarn, ja sogar vor sich selbst.
Auf den Gesichtern der Älteren, die ihr Theaterprogramm zusammengerollt in der Hand hielten, war deutlich Angst zu erkennen. Aber in diese Angst mischte sich noch etwas anderes: ein Gefühl der Trauer und der Ohnmacht. Sie konnten nicht mehr darauf hoffen, an diesen Verhältnissen etwas zu ändern, sie konnten nur noch hoffen, mit heiler Haut davonzukommen. Und zu Hause würden sie dann ihre Tür verrammeln, die
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