Der kalte Himmel - Roman
leise.
Aus Alex’ Gesicht verschwand das Lächeln. Sie richtete sich auf und drückte ihren Rücken fest gegen die gepolsterte Rückwand des Bettes, als müsse sie sich stützen. » Doch. «
Mit einem Ruck schob sie die Wolldecke auf ihren Knien zurück, so dass ihr Faltenwurf einem Dämon ähnelte, der alles in seinem purpurnen Maul zu verschlingen drohte.
Es durchzuckte Marie, sie spürte, dass sie etwas Wundes berührt hatte. Der fröhlichen Alex, die sonst nie um das nächste Wort verlegen war, fiel auf einmal das Sprechen schwer.
» Ich war verlobt « , sagte sie schließlich. » Peter und ich wollten heiraten. Alles geplant. Doch dann hat er sich verändert. Wurde aus heiterem Himmel unglaublich wütend. Schrie. Dann wieder traurig. Manchmal sprach er tagelang kein Wort … Gehirntumor. Unheilbar fortgeschritten. War nichts zu machen. « Alex’ Augen füllten sich mit Tränen. » Du kannst dir überhaupt nicht vorstellen, was das für eine Odyssee war. Bis wir überhaupt wussten, was ihm fehlte. Am Anfang haben ihn die Ärzte auch für schizophren gehalten. Ihm Beruhigungsspritzen gegeben, ihn an ein Gitterbett gebunden. Dabei war er todkrank. «
Ganz still war es nun. Marie tastete nach der Hand ihrer Freundin und hielt sie fest. » Das tut mir leid « , flüsterte sie.
» Ich hab das auch erst lernen müssen « , erwiderte Alex traurig, » mir nicht alles gefallen zu lassen. Nur dass ich für Peter nichts mehr tun konnte. Aber du « , Alex suchte nun Maries Blick und blickte ihr fest in die Augen, » du hast eine Chance. «
*
» Bruder Jakob, Bruder Jakob, schläfst du noch? Schläfst du noch? Hörst du nicht die Glocken, hörst du nicht die Glocken? Ding. Dang. Dong. Ding. Dang. Dong. «
Niklas notierte akribisch, wie mühelos Felix den bekannten Kanon auf dem Xylophon nachspielen konnte. Einmal nur hatte er dem Jungen die Melodie vorgesungen, und sofort griff Felix nach dem Schlegel und schlug die Töne an.
Ding. Dang. Dong. Ding. Dang. Dong.
In den langen Wartezeiten, in denen sie die Bemühungen des jungen Arztes mit ihrem Sohn beobachten durfte, begann Marie für Felix einen Pullover zu stricken, Faden für Faden der graubraun melierten Wolle schlang sich ineinander, bestimmt würde sie damit bis Ostern fertig sein. Neben dem bekannten Murmelspiel hatte Niklas größere Mengen verschiedenfarbiger Legosteine herbeischaffen lassen, mit denen Felix die phantastischsten Muster quer durch den Behandlungsraum legte. In den vielen Stunden, die sie beide nun regelmäßig in der Betrachtung von Felix verbrachten, blieb es nicht aus, dass sich Maries und Niklas’ Blicke immer wieder begegneten, ja, dass einer dem anderen mitunter ansehen konnte, was ihm gerade durch den Kopf ging. Mitunter lächelten sie sich zu, im stillen Einverständnis, auf ein gemeinsames Ziel hin verbunden zu sein.
Zumindest glaubte Marie das. Mit jedem Tag, den sie hier mit Niklas und ihrem Sohn verbrachte, verstärkte sich ihr Gefühl, der Lösung dieses Falles näher zu kommen, vereint mit einem Spezialisten, der wie sie an ihren Sohn glaubte, ihn nicht aufgab und seine kostbare Zeit zur Verfügung stellte. Mit jeder gemeinsam hier verbrachten Stunde trat immer offenkundiger zu Tage, was sie von Anfang an prophezeit, woran sie mit jeder Faser ihres Herzens immer geglaubt hatte: dass Felix nicht dumm war, dass es nur eines guten Arztes bedurfte, um seine Fähigkeiten ans Licht zu holen und ihn zu einem Menschen zu machen, der seinen Weg in die Normalität finden würde – auch wenn er dafür vielleicht etwas länger brauchte. Ja, sie vertraute Niklas, sie vertraute ihm in ihrer Sorge um Felix mehr als jedem anderen Menschen. Niklas Cromer würde sie und ihren Sohn aus der Dunkelkammer der Ausgestoßenen befreien und in den lichterfüllten Raum des geschäftigen Daseins zurückführen.
Daheim würden sie Augen machen, wenn sie mit einem gesunden Buben zurückkäme. Marie malte sich schon aus, wie sie ihrem Mann und ihren beiden älteren Kindern den aus seiner Befangenheit befreiten Felix zeigen würde. Ein freier Junge ohne Angst, das würde er sein, und wenn es Niklas erst einmal gelungen war, ihm jene unbegreifliche Angst vor menschlicher Nähe zu nehmen, dann würde sich alles andere schon finden.
Unbefangen würde er sein, so wie er in diesem Moment unbefangen mit den Gerätschaften spielte, die ihm Niklas vorsetzte. Alles, was er mit den Legos, Murmeln, Tonstäben und Zahlen anzufangen wusste, zeigte seinen
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