Der kalte Himmel - Roman
konzentrierten Geist, seine hellwache Aufnahme dessen, was man ihm vorsetzte. Es war ein Witz, dass einem solchen Jungen die Schulreife abgesprochen wurde, es war das Versagen von Menschen, die niemals in ihrem Leben etwas Besonderes gesehen hatten. Und Felix war etwas Besonderes, davon war Marie überzeugt.
» Deine Zahlen leuchten in Farben? « , fragte Niklas verwundert, als Felix ihm bei einem ihrer regelmäßigen Rechenspiele erklärt hatte, dass er die Sieben lieber mochte als die vorlaute Fünf.
» Ich mag die Sieben, die ist groß und hell « , verkündete Felix mit Nachdruck und hatte den jungen Arzt damit staunen gemacht. » Sehr groß. Und gelb wie die Sonne « , beteuerte Felix erneut. » Und die Elf ist mein Freund. «
Der Arzt sah sehr nachdenklich aus. Marie beobachtete, wie er sich heute schon die zehnte Zigarette anzündete.
*
Auf dem Rückweg von der Klinik in die Schlüterstraße geriet die Straßenbahnlinie, in der Marie und Felix saßen, ins Stocken. Etwa einhundert protestierende Studenten blockierten die Schienen. Sie protestierten mit Ho-Tschi-Minh-Plakaten gegen den Vietnamkrieg der USA und die nach der Bundestagssitzung vom 9 . Februar 1968 angekündigten Notstandsgesetze der Großen Koalition unter Kurt Georg Kiesinger. Einige der Studenten hatten sich auf die Schienen gesetzt, andere schwangen ihre Plakate und riefen immer wieder: » Ho, Ho, Ho Tschi Minh. « Felix drückte seine Nase an den Glasscheiben der Straßenbahn platt und beobachtete mit reglosem Gesicht das Treiben auf der Straße.
» Was machen die da? « , fragte er schließlich seine Mutter.
Marie musste daran denken, wie er ihr diese Frage schon einmal gestellt hatte. Wie neugierig sie und Felix die ersten Bilder dieser Proteste in Alex’ Fernseher aufgesaugt hatten. An jenem Novembertag 19 67 waren das Bilder einer fremden Welt gewesen, niemals hätte es Marie nach der ersten Amtsuntersuchung in der Grundschule für möglich gehalten, dass sie nur wenige Monate später hier in Berlin mitten in diesen Geschehnissen stand. Die Proteste der Studenten gegen die alten Obrigkeiten waren für sie zu einem ins Riesenhafte verzerrten Spiegel ihres eigenen Aufbegehrens geworden. Sie hatte keine Ahnung von alldem hier und fühlte sich trotzdem zugehörig zu diesen wildfremden Menschen, die sich ein eigenes Bild machen wollten, ihre eigenen Ansprüche formulierten – auch wenn vielleicht nicht ausnahmslos alles davon richtig war. Schließlich wusste Marie selbst am besten, wie schnell man in seinem Eifer über das Ziel hinausschießen konnte. Doch nur wer sich bewegte, konnte auch etwas verändern.
Da die Straßenbahn nicht mehr weiterfahren konnte, mussten Marie und Felix schließlich eine fünfhundert Meter entfernt liegende Bushaltestelle ausfindig machen. Als sie einstiegen, war schnell klar, dass dieser Bus keine direkte Linie bot, also hieß es wieder umsteigen, wieder warten, wieder eine größere Strecke laufen, bis sie und Felix endlich die Treppenstufen zur Wohngemeinschaft emporklimmen konnten.
Mit einem heißen Tee in der Hand ließ sich Marie erschöpft auf das breite Kanapee des Musikzimmers sinken. Eine Querflöte spielte eine alte Weise, und Marie fragte sich noch, wer da so schön musizierte, da war sie auch schon eingeschlafen. Als sie erwachte, schlug die alte Wanduhr gerade sechs, die Stadt lag bereits im Dunkeln. Marie hatte ihren Arbeitsbeginn im Kudamm-Eck verschlafen.
*
Später konnte sich Marie kaum noch daran erinnern, wie sie in die Gaststätte gekommen war. Die Straßenbahn, die Gesichter, all das verschwamm in der Erinnerung. Was blieb, war der namenlose Schrecken, wahrscheinlich ihre einzige Einnahmequelle verspielt zu haben.
» Entschuldigung « , keuchte sie, als sie endlich die Tür zur Gaststube aufstieß, und schnappte nach Luft, um zu erklären, was aus der Sicht des Wirts nicht zu erklären war.
» Meine Schwester ist eingesprungen! « Scharf wie ein Messer schnitt seine Stimme in ihren Satz.
In diesem Moment wusste Marie, dass sie es vermasselt hatte.
» Verschon mich mit deinen Geschichten, hab ich gesagt. Sei pünktlich, hab ich gesagt. Ist das zu viel verlangt? «
» Nein, aber mein Sohn … « , begann Marie verzweifelt.
» Ach, hör doch auf. Heute sind es die Masern, morgen sind es die Windpocken, ich hab selber zwei Gören zu Hause. Ich fang doch auch nicht hier damit an. «
Kreidebleich stand Marie inmitten der drängelnden, trinkenden und rauchenden Menschen. » Aber ich
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