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Der kalte Himmel - Roman

Der kalte Himmel - Roman

Titel: Der kalte Himmel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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brauche die Arbeit « , bat sie verzweifelt.
    » Tut mir leid « , erwiderte der Wirt und vermied es, ihr in die Augen zu sehen. » Bei mir bist du draußen. Ich kann mir so was einfach nicht leisten. «
    *

Völlig zerschlagen saß Marie am anderen Morgen in Niklas’ Sprechzimmer. Zum ersten Mal sah sie nicht auf, wenn der Arzt mit ihrem Sohn sprach, ließ sich nicht mitreißen von den vielen kleinen Zeichen des Einverständnisses, die sich zwischen Felix und Niklas Cromer entwickelt hatten, den Gesten des Vertrauens und des zwanglosen Miteinanders, die die Grundlage für die Studien des Arztes bildeten.
    Niklas hatte Felix eine Weile beobachtet, wie er die Legosteine zusammenlegte, die den Boden des Behandlungszimmers schon zu gut einem Drittel bedeckten, wie er konzentriert Muster an Muster zusammensetzte, als er in einen Korb mit Holzstäben griff. Mit den Holzstäben schlug der Doktor in wechselnden Intervallen je eine Folge von fünf Tönen an, C F E F G , eine Quarte aufwärts, eine kleine Sekunde abwärts, eine kleine Sekunde aufwärts und dann noch eine große Sekunde aufwärts. Danach ordnete er die Stäbe geometrisch auf dem Boden. Schon nach den ersten Schlägen hatte er Felix erreicht, der Junge ließ seine Legosteine sinken und stand auf. Neugierig trat er an Niklas heran, beobachtete ihn beim Aufbau der Holzstäbe, griff dann selber in den Korb, um sich zwei Stäbe zu holen. Felix antwortete dem Arzt sofort. Taktak, Taktak, schlug er den Rhythmus, den er mühelos erkannt und ohne Verzögerung wiedergeben konnte. Ohne den Jungen anzusehen, ohne ihn durch Ansagen und Aufforderungen zu verunsichern, gelang es Niklas, über die Musik ein Band zu knüpfen, Felix’ Aufmerksamkeit zu gewinnen und ihn zu einer gemeinsamen Aktion zu veranlassen.
    Nach einer Weile fiel dem Arzt auf, dass Marie anscheinend nichts von alldem bemerkt hatte. Verloren starrte sie durch die große Glasfront hinaus in den dunstigen Himmel des grauen Märztages und saß so kraftlos in ihrem Sitz, wie er sie noch nie gesehen hatte.
    Aus dem rhythmischen Band zwischen Felix und ihm war inzwischen eine kleine Stadt erwachsen, konsequent verbundene Vierecke aus Holz breiteten sich über den Boden aus. Taktak, Taktak. Es war der pure Rhythmus, der Barrieren sprengen und das Herz dieses verschlossenen Jungen öffnen konnte. Schlagartig wurde dem Arzt klar, dass ihm allein die Musik helfen konnte, die Geheimnisse dieses Kindes zu ergründen. Sie war der Türöffner zum Wesen des Jungen. Der Schlüssel, nach dem er so viele Wochen vergeblich gesucht hatte, erwies sich als Notenschlüssel.
    » Haben Sie gesehen? « , flüsterte Niklas, nachdem er endlich aufgestanden und zu Marie hinübergelaufen war. Die Aufregung stand ihm ins Gesicht geschrieben. » Marie, haben Sie gesehen? «
    Langsam drehte sie sich zu ihm und zuckte bedauernd mit den Achseln. » Was ist denn? « , fragte sie leise.
    » Wir machen etwas gemeinsam! « , sagte Niklas mit vibrierender Stimme. » Felix und ich! Er ist zum ersten Mal aus seiner Welt herausgekommen. «
    Ihr ungläubiges » Nein « glich einem kleinen harten Kieselstein, der auf eine Glasplatte fällt.
    Doch dann sah Marie ihn lächeln, sah, wie sich die angespannten Gesichtszüge des Arztes in ein strahlendes Lachen lösten. Da wusste sie, dass er die Wahrheit sagte. Das Wunder war geschehen.
    *

Erschöpft beobachtete Marie ihren Sohn, wie er am Nachmittag entspannt zwischen den Kindern der Wohngemeinschaft hin- und herlief, geometrische Muster in die Wandmalereien fügte oder leise Zahlenreihen vor sich hin murmelte. In den letzten Tagen hatte Felix von den Studenten an der Druckerpresse ausrangierte Flugblätter in die Hand gedrückt bekommen, auf die er seine endlosen Zahlenkolonnen kritzelte. Wie geheimnisvolle Schlingpflanzen bedeckten sie den Boden des Spielzimmers, wucherten bald in alle Ecken hinein, ohne dass er aufhören konnte, Zahlen an Zahlen aneinanderzureihen. Niemand störte sich daran.
    » Wieso kannst du eigentlich so gut rechnen? « , fragte ihn ein kleines Mädchen.
    » Ich bin ein Rechenvogel « , erwiderte Felix ohne Scheu. » Ich kann rechnen und fliegen. «
    Er ließ den Stift sinken, hob und senkte seine Arme in seinem alten Rhythmus, als wäre er erst gestern durch die Hopfenfelder seines Heimatdorfes gelaufen, und rannte los. Ihre Augen folgten dem wiegenden Takt seiner Bewegung, dem Vogelschwung seiner Arme und dem Hoch- und Niederwippen seiner Zehenballen. Er ist angekommen,

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