Der kalte Himmel - Roman
setzten sich auf Felix’ Wimpern fest, wie ein feiner Schleier umsäumten sie seinen Blick. Fast sah es aus, als ob er weinte. Doch Felix weinte nicht. Er sah seine Mutter auch nicht an, sein Blick wanderte weit weg.
In Marie löste sich das Erschrecken nur langsam. Jetzt erst fühlte sie, dass auch ihr Gesicht ganz nass war, dass ihr der feine Regen schon von den zurückgebundenen Haaren auf die Wangen tropfte und ihre wollene Winterjacke das Wasser in sich aufzusaugen schien.
» Wir schaffen das, hörst du! « , flüsterte sie ihrem Sohn zu. » Wir schaffen das. «
Erschöpft von der Aufregung liefen sie die Dorfstraße entlang, die nach Westen hin Richtung Landstraße hinaus zum Moosbacher Hof führte. Die Straßenlaternen leuchteten bereits, in einer halben Stunde würde es an diesem dunstigen Novembernachmittag bereits dunkel sein.
Hier draußen schien Felix wieder ohne Angst. Mit seiner leicht schwingenden Bewegung hüpfte er den Rinnstein entlang und konzentrierte sich auf die regelmäßig verlegte Straßenbegrenzung, die jedoch an einigen Stellen schadhafte Löcher aufwies. Diese Löcher interessierten ihn besonders, mit der Fußspitze lotete er ihre Maße aus, um dann umso entschlossener weiterzuspringen, hinein in die schöne Regelmäßigkeit der Abschlusskante, die seinen Bewegungen Richtung und Rhythmus zu geben schien.
*
Felix war vielleicht zwanzig Meter vorausgesprungen, als etwas anderes, ein aus den Häusern kommendes Geräusch seine Aufmerksamkeit gefangennahm. Jetzt bemerkte auch Marie den blauen Schein, der aus dem Fenster eines kleinen Dorfhauses auf die Straße fiel. Das Fenster war gekippt, und Marie hörte beim Näherkommen die Stimme eines Nachrichtensprechers, der von Studentenprotesten in Berlin berichtete. Felix klebte längst an der Fensterscheibe und starrte gebannt auf den flimmernden Bildschirm. In der Familie Moosbacher gab es keinen Fernseher, und auch sonst im Dorf besaß keiner außer dem Bürgermeister ein Gerät.
Als Marie neben ihren Sohn trat, blickte sie genauso fasziniert wie er durch die Scheibe. Es waren Bilder einer fremden Welt, die da auf sie einstürmten. Wie betäubt starrte Marie auf die Bilder einer selbstbewussten großstädtischen Jugend, die mit Transparenten und Sprechchören durch die Straßen von Berlin marschierte.
» Die nach dem Tod des Studenten Benno Ohnesorg aufgetretenen Studentenproteste flammen in den letzten Wochen wieder stärker auf « , sagte der Nachrichtensprecher.
» Was machen die Leute da? « , fragte Felix.
» Ich weiß nicht « , murmelte Marie. » Ich glaube, sie protestieren. Sie wollen wohl etwas ändern. «
Marie hatte den Satz kaum zu Ende gesprochen, da sprang Felix auch schon wieder weiter. In schwungvollen Bewegungen breitete er nun seine Arme aus, frei wie ein Vogel, der einer unbekannten Ordnung folgt, immer tiefer in die Dämmerung hinein.
Maries Blick verweilte noch einen Augenblick länger im Fenster und wanderte nun über den Bildschirm hinaus. Erst jetzt begriff sie, dass hier die junge Kantorin wohnen musste, denn ein Klavier und ein hoch aufragendes Bücherregal standen im Wohnraum, in dessen Mitte sich noch einige halb geöffnete Umzugskisten befanden. Alex Brunner hatte sich wohl noch im Flur eine Zigarette angezündet und betrat mit der Zigarette in der einen und einem Stapel Noten in der anderen Hand den Raum, in dem der Fernseher vor sich hin lief. Als sie Maries neugierigen Blick bemerkte, nickte sie lächelnd und wandte sich dann wieder ihren Umzugskisten zu.
Marie ihrerseits nickte kurz und lief dann endlich weiter, immer die Dorfstraße entlang, bis die Laternen aufhörten und sie mit Felix das letzte Stück zum Hof in völliger Dunkelheit zurücklegen musste. Auf dem mit Schlaglöchern und Pfützen übersäten Feldweg setzte Marie vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Langsam begann sie in ihrer feuchten Winterjacke zu frieren. Noch immer spürte sie dem Moment nach, in dem sich ihre zwei Augenpaare am Fenster begegnet waren.
*
Auch der nächste Tag begann mit feinem Sprühregen. Vom Hof aus beobachtete Marie, wie Paul und sein Vater mit dem Traktor über den schlammbedeckten Weg zum zwei Kilometer entfernten Hopfenfeld fuhren.
Die Anspannung zwischen beiden Männern war nach Pauls überraschendem Kauf der Hopfenmaschine mit den Händen greifbar, doch noch hatte keiner der beiden ein Wort gesagt.
Elisabeth dagegen versuchte schon beim Frühstück, ihre Schwiegertochter nach dem Ergebnis der
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