Der kalte Kuss des Todes
gedacht – ich sehe es in deinen Augen! Ich habe es ja anfangs selbst geglaubt. Aber dann habe ich auf einmal begriffen. Selbst wenn er ein Bettler wäre, selbst wenn seine Familie der letzte Dreck wäre und nur aus Säufern und Pennern bestünde, würde ich mich nicht wehren. Ich kann ohne Stepan nicht leben. Und ich werde alles ertragen, weil. . . nein, das kannst du nicht verstehen. Gestern habe ich mir noch geschworen: um keinen Preis mehr, niemals! Und heute hat er angerufen, und ich . . .«
»Stepan hat dich angerufen? Von wo? Was hat er gesagt?«
»Dass er stirbt, wenn ich nicht zurückkomme.«
Katja biss sich ungläubig auf die Lippe. Wie melodramatisch! Wie in einer mexikanischen Seifenoper. Doch auf Lisa machte es offenbar Eindruck, denn sie war ganz blass geworden. Doch auch Katja blieb die sarkastische Entgegnung im Halse stecken, und das Herz zog sich ihr in der Brust zusammen. Vielleicht hatte Stepan tatsächlich Selbstmordgedanken? Schließlich war er nicht normal. Und er selbst hatte ihr ständig von irgendeinem Opfer erzählt. . .
»Von wo hat er dich angerufen, Lisa?«, wiederholte sie.
»Ich weiß es nicht. So was sagt er mir nicht.« Lisa lächelte traurig.
»War er schon mal bei einem Psychiater?«
»Nein, aber Dmitri drängt ihn dauernd dazu.«
»Warum?«
»Weil. . .« Lisa hob langsam den Blick, richtete ihn auf Katja. In ihren Augen lag ein Ausdruck, der an den eines Hundes erinnerte, der vergeblich auf Zuwendung wartete und schon müde geworden war, mit dem Schwanz zu wedeln. »Hat er dir in der Nacht, als ihr zusammen wart, nicht gesagt, er sei ein . . . Bär?«
»Was?« Katja fuhr zusammen.
»Das ist so eine fixe Idee von ihm. Als wir uns kennen lernten, hat er mir erzählt, dass seine Oma ihm und Dmitri, als sie Kinder waren, immer aus Mérimées › Lokis ‹ vorgelesen hat. Diese blöde › Bärenhochzeit ‹ , der Stummfilm aus ihrer längst vergangenen Jugendzeit, war für die alte Hexe so was wie eine Sinnesverwirrung. Ich glaube, sie war in Sawadski verliebt. . . du hast ja selber gesehen, wie viele alte Fotos es auf der Datscha gibt. Die hat sie alle mitgebracht, als sie schon mit Basarow verheiratet war. Für seine Söhne war sie nur die Stiefmutter, aber für die Enkel, hat Stepan mir erzählt, war sie die liebevollste Großmutter, die man sich denken kann . . .jedenfalls solange sie noch nicht völlig senil war. Sie hat ihnen die Kunst, den Film und die französische Literatur nahe gebracht. Du weißt ja, wie empfänglich Kinder sind, wie leicht zu beeindrucken. Stepan hat gesagt, als Kind hätte er immer wieder denselben Traum gehabt: Ein riesiger Bär schleppt eine Frau ins Dickicht. Die Frau trägt ein weißes Kleid, und ihre Schleppe bleibt an Dornen und Zweigen hängen, und der Stoff reißt. . . Stepan sagte, diese Frau sei ich; das hätte er erkannt, als er mich das erste Mal sah. Ich habe das zuerst gar nicht wichtig genommen, aber dann«, Lisa schluckte, »hat er mich einmal auf die Datscha nach Uwarowka mitgenommen, und dort. . . liegt dieses Fell auf dem Boden, du hast es gesehen. Und Stepan . . . so hatte ich ihn noch nie erlebt, Katja! Er hat mich direkt auf diesem Fell genommen. Und dann hat er das Bärenfell übergezogen, und ich habe gelacht. Damals habe ich darüber noch gelacht, habe ihn zum Spaß › Bär ‹ genannt. Später sind wir dann öfter auf die Datscha gefahren, haben sogar einige Monate dort gewohnt. Und alle diese Marotten schienen mir nur ein Spiel zu sein. Menschen haben die wildesten Fantasien. Ich fand es sogar pikant und ungewöhnlich. Aber dann kam diese verfluchte Jagdpartie, und Stepan wurde krank.
Als er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, merkte ich, dass sich sein Blick irgendwie verändert hatte. Er sah mich auf eine ganz andere Weise an. Dazu kam dieses eigenartige Schielen – und vorher war mit seinen Augen alles ganz normal gewesen. Einmal fuhr er mit mir zur Datscha, und wieder dieses verdammte Fell. . . Er war ein anderer Mensch geworden. Er hat mich gezwungen. Ich bin nicht prüde und keine Heilige, aber es gibt Dinge . . . Als ich mich sträubte, schlug er mich. Ganz kontrolliert, mit genau dosierter Kraft. Wie einem Bären gefiel es ihm, mich zu quälen. Ich habe geschrien und geweint, als er mich wie eine Nutte vergewaltigt hat. Als er wieder zu sich kam, hat er mir die Füße geküsst, mich um Verzeihung gebeten, und ich . . . Er kann einen völlig besoffen reden!«
»Ich weiß, Lisa.«
»Gar nichts weißt du!«
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