Der Kalte Kuss Des Todes
weg war? Wieso? Ich machte ein Auge auf und starrte Scarface misstrauisch an. »Was?«, flüsterte ich.
Er verzog den Mund, der Schnitt in seiner Wange klaffte auf, und ich konnte den bleichen Knochen hervorschimmern sehen. »Auf.«
Er wollte, dass ich aufstand?
»Kann nicht«, krächzte ich, »du sitzt auf mir.«
Er verdrehte seinen einzigen noch verbliebenen Augapfel, der mehr einer Dörrpflaume ähnelte. »Sor … ry«, keuchte er und stieg von mir herunter.
Ich massierte erleichtert meinen Hals. Es hatte zwar ziemlich wehgetan, aber mein Ätherkörper schien keinen merkbaren Schaden davongetragen zu haben.
Scarface ging neben mir in die Hocke. »Auf … helfen.« Ein knochiger Finger stupste mich drängend an der Schulter. »Fänger … bald zurück.«
Ich wusste zwar nicht, warum er mir half, aber mir sollte es recht sein. Ein wenig benommen rappelte ich mich hoch. Neben mir auf dem Boden lag mein Messer. Ich hob es auf. Es fühlte sich schwer und warm in meiner Hand an, ein ermutigendes Gefühl, auch wenn man damit nur Geister abwehren konnte.
Ich schaute mich um. Scarface schlurfte bereits wieder davon, genauso wie ich es beim Geisterzählen beobachtet hatte.
Und ich befand mich in derselben Tunnelkreuzung, über
mir die hohe Gewölbedecke. Doch jetzt brannten hier zahllose Kerzen, die den Ort hell erleuchteten. Die Geister waren verschwunden, nur das Fabergé-Ei lag in einsamer Pracht inmitten eines aus rotem Sand gezogenen Bannkreises. Neben dem Ei lag zusammengerollt der Floristen-Azubi. In seinem Gesicht prangte ein frisches Veilchen. Sicher nicht die Sorte Blume, die er bevorzugte, sinnierte ich.
Der rote Teppich war also ausgerollt, bereit, den hohen Besuch von unten zu empfangen.
Ich ging zu dem Kreis hin. Die Brust des Jungen hob und senkte sich langsam. Entweder war er bewusstlos, oder er schlief. Ich tippte auf Ersteres. Ich streckte die Hand aus, stieß aber gegen einen zähen, unsichtbaren Widerstand.
Ich warf einen genaueren Blick auf den roten Sand, und tatsächlich, er war mit grünen, grauen und rostroten Brocken gesprenkelt: Eibe, um die Toten abzuwehren, geweihte Knochen, mit ebenfalls geweihtem Blut bespritzt, damit der Dämon den Bannkreis nicht verlassen konnte.
Nein, in meiner jetzigen Gestalt konnte ich den Bannkreis nicht betreten. Ich würde den Jungen später herausholen müssen.
Aber wer war der geheimnisvolle Gast? Vielleicht konnte er mir ja helfen oder ließe sich zumindest als Ablenkung benutzen. Eng an die Tunnelwand gedrückt, stahl ich mich zu der Schlackensteinmauer zurück, in der die Holztür nach wie vor offen stand, wobei ich behutsam um den abgezäunten Knochenhaufen herumging. Vorsichtig spähte ich in den großen Raum mit dem Landschaftsgemälde, wo Hannah einen auf Harakiri gemacht und sich meinen Körper unter den Nagel gerissen hatte.
Ich sah zwei Menschen, lebend, keine Geister. Ich fuhr instinktiv zurück, doch dann schnaubte ich. Ich war ein Geist, außer Nekro-Neil konnte mich niemand sehen – und ohne
seine gespenstischen Henkersknechte konnte er mich auch nicht einfangen. Jedenfalls nicht vor Mitternacht.
Ich schlich vorsichtig in den Raum und schaute mich um, konnte ihn aber nirgends sehen.
Hannah schritt in einem weiten, wallenden schwarzen Abendkleid mit orangerotem Muster auf ihren Gast zu. Das Haar trug sie kunstvoll auf dem Kopf aufgetürmt, gekrönt von einer funkelnden Tiara. Ich hätte meinen Körper fast nicht mehr erkannt, er sah ganz anders aus mit dieser Frisur, dem Kleid und der Schminke. Wenigstens hatte sie keine Zeit gehabt, ihm in den letzten paar Stunden eine Brustvergrößerung zu verpassen. Ich riss meine Augen von ihr los und sah erst jetzt, wen sie da anhimmelte:
Malik al Khan.
Mein ätherisches Herz setzte einen Schlag lang aus. Er war also gekommen! Aber warum schaute er sie so ruhig an? Wusste er nicht, dass nicht ich in dem Körper steckte, sondern Hannah? Und warum tötete er sie nicht? Ich ballte meine Hände zu Fäusten, wollte ihn anschreien, sich zu beeilen, wusste aber, dass er mich nicht hören konnte. Mein Herz geriet erneut ins Stolpern, diesmal jedoch aus einem ganz anderen Grund. Wenn die Motte nun nicht mehr zu sich gekommen war? Wenn sie ihm meine Botschaft gar nicht hatte ausrichten können?
Kacke . Plan A schien nicht funktioniert zu haben. Zeit, mir Plan B einfallen zu lassen.
Ich schaute mich nochmals um, doch auch diesmal konnte ich Nekro-Neil nirgends entdecken. Mein Blick glitt zu Hannah
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