Der kalte Schlaf
gefragt, woher ihre Tochter Jo Utting kannte?«
»Nein.« Liv wirkte tief getroffen, als wäre sie bei einer groben Fahrlässigkeit ertappt worden. »Ich dachte, ich hätte genug getan. Hätte ich denn …«
»Sie kannten sich«, murmelte Charlie und tigerte in der Küche auf und ab. »Daher wusste Kat auch, dass Jo keineswegs in der Nähe von Pulham Market wohnte.«
»Vermutlich«, bestätigte Liv.
»Was haben sie noch zueinander gesagt?«
»Kaum etwas, laut der Freundin. Johannah sagte: ›Was machen Sie denn hier?‹, und Kat antwortete: ›Ich leihe mir Kostüme für eine Schulaufführung aus. Ich bin jetzt Grundschullehrerin.‹«
»Du bist dir da sicher? Sie hat gesagt: ›Ich bin jetzt Grundschullehrerin.‹?«
»Natürlich nicht.« Livs Stimme zitterte. »Ich meine, ich weiß nicht, ob Kats Freundin sich sicher war. Ich weiß nur, was sie gesagt hat.«
»Jo kannte Kat also von früher, und sie hatten sich länger nicht gesehen«, schlussfolgerte Charlie. Sie drehte sich zu ihrer Schwester um. »Was wurde noch gesagt?«
»Kat erzählte Johannah – Jo –, dass sie eine Stelle ganz in ihrer Nähe gefunden hätte, in einer Schule in Spilling. Jo schien nicht gerade erfreut darüber zu sein. Kat und ihre Freundin haben darüber gelacht, als Jo weg war, so absonderlich war das Ganze. Warum sollte es einer Frau, die Kat nur flüchtig kannte, etwas ausmachen, dass sie sich in einem Kostümverleih trafen und dass sie Lehrerin in Spilling war? Aber offenbar störte es sie, beides. Kat konnte es überhaupt nicht begreifen. Ich habe die Freundin gefragt, ob sie etwas Näheres über Jo wisse. Ich dachte, Kat hätte vielleicht gesagt, ach, die war schon immer verrückt, um dann irgendeine Geschichte aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit zu erzählen.«
»Sie hatten keine gemeinsame Vergangenheit. Laut Kat Allen haben sie einander kaum gekannt, das hast du eben gesagt. Andererseits, man kennt auch jemanden, den man nur flüchtig kennt.«
»Kats Freundin hat tatsächlich gefragt, aber Kat hat nur die Augen verdreht und gelacht, so nach dem Motto, das ist eine zu langweilige Geschichte«, entgegnete Liv. »Bevor Jo Utting hereinkam, hatten sie und Kat über etwas gesprochen, das beide mehr interessierte, Klatschgeschichten, und kurz darauf wandten sie sich wieder diesem Thema zu.«
»Kat war also nicht beunruhigt über das Zusammentreffen mit Jo«, sagte Charlie. In dieser Küche ließ es sich gut nachdenken. Sie war lang genug, um Runden zu drehen und das Gehirn auf Trab zu halten, indem man den Körper in Bewegung hielt. »Nein, das wird sie nicht gewesen sein. Sie hatte keine Ahnung, dass sie Grund hatte, Angst vor Jo zu haben. Sie wusste nicht, dass Jo sich meilenweit von zu Hause entfernt ein Kostüm ausgeliehen hatte, weil sie vorhatte, darin einen Mord zu begehen.«
Liv nickte. »Ich habe mich geirrt. Kat Allen hat Sharon Lendrim nicht umgebracht. Jo Utting hat beide getötet, oder? Danach sieht es aus, oder?«
»Wenn Kat nicht an diesem Tag im Kostümverleih ihrer Freundin gewesen wäre, wenn sie einen Tag früher oder später hingegangen wäre, würde sie noch leben«, sagte Charlie.
»Sag das nicht. Es ist zu furchtbar.«
»Es stimmt aber. Das Zusammentreffen im Kostümverleih allein hätte vielleicht nicht ausgereicht, aber als Kat erwähnte, dass sie in Spilling arbeitet …«
»Jo Utting war klar, dass ihr höchstwahrscheinlich Sharons Tod zu Ohren kommen würde, ein Mord, der ganz in der Nähe begangen wurde«, führte Liv den Gedanken zu Ende. »Begangen von einem Brandstifter, der eine Feuerwehruniform trug, aber kein Feuerwehrmann war. Aber warum hat sie Kat Allen dann nicht eher umgebracht? Warum erst zwei Jahre später? Gleich oder gar nicht, alles andere ergibt doch keinen Sinn.«
Charlie schüttelte den Kopf. »Simon zufolge hat Jo Utting ein Alibi für den Tag, an dem Kat starb. Sie hat anstelle von Amber Hewerdine an einem Verkehrserziehungskurs teilgenommen.«
»Char, du darfst Simon nicht erzählen, dass du das alles von mir hast. Wenn Chris es erfährt …«
»Er wird lernen müssen, damit zu leben«, sagte Charlie.
»Bitte. Ich flehe dich an. Ich würde alles …«
»Alles? Die Sache mit Gibbs beenden?«
»Das nicht.«
Charlie seufzte und kniff die Augen zusammen. »Schön. Wie wär’s dann damit, stattdessen das Fenster eines abgeschlossenen Zimmers mit einem Stein einzuwerfen?«
13
F REITAG , 3. D EZEMBER 2010
Zum dritten Mal in meinem Leben komme ich in Little Orchard
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