Der kalte Schlaf
an. Es schneit immer noch, aber der Schnee hat uns nicht davon abgehalten, unser Ziel zu erreichen. Auf der Fahrt habe ich Simon gefragt, ob ihm das Wetter Sorgen mache, und er verneinte. »Schnee war noch nie ein Problem für mich«, sagte er. »Ich fahre, als wäre er gar nicht da, und alles ist gut.«
Ich weiß, er vertraut auf die Regel, nach der man beim dritten Mal Glück hat, er hofft, dass ich in die Küche treten werde und mir wieder einfällt, wo ich den Zettel gesehen habe, auf dem »Lieb – Grausam – Liebgrausam« stand. Denn dann wird er Jo mit dem Mord an Kat Allen in Verbindung bringen können.
Als wir schweigend durch den Schnee zur Hintertür stapfen, spreche ich ein stilles Gebet: Bitte mach, dass nicht alles von mir abhängt. Bitte lass nicht zu, dass Simon sich ausschließlich auf mein unzuverlässiges Gedächtnis verlässt. Selbst wenn es mir wieder einfallen sollte, was wäre damit gewonnen? Wenn ich den Zettel nicht herbeischaffen kann, der vermutlich längst im Papiermüll gelandet ist, wie will er dann beweisen, dass die Mörderin von Kat Allen ihn von dem Block in ihrer Wohnung abgerissen hat? Nicht einmal Simon Waterhouse kann einen DNA-Test von einem mentalen Bild machen lassen.
Die Hintertür geht auf, als wir näher kommen. In der Tür steht eine Frau, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Sie wird von hinten von dem Licht angestrahlt, das aus der Küche fällt. Ihr Mantelkragen und die Ärmelaufschläge wirken seltsam aufgebläht, als hätte jemand ihnen Botox injiziert.
»Liv«, sagt Simon. »Du hast es also bis hierher geschafft.«
»Hast du irgendwas mitgebracht?«, fährt die Frau ihn an, als habe er etwas falsch gemacht.
»Zum Beispiel?«
»Was zu essen, Wein, Klopapier, Seife? In diesem Haus gibt es acht Klos und nur zwei fast aufgebrauchte Rollen Klopapier. Es ist nichts zu essen im Haus. Gar nichts!« Sie wirft mir einen Blick zu, kommt zu dem Schluss, dass ich nicht wichtig bin, und wendet ihre Aufmerksamkeit wieder Simon zu. »Tut mir leid, dass ich das Niveau der Veranstaltung senke, ich weiß, du bist mit den Gedanken bei höheren Dingen. Aber da ich der einzige Mensch hier bin, dem klar zu sein scheint, dass wir in spätestens einer Stunde total eingeschneit sein werden …« Damit marschiert sie in die Nacht hinaus und versucht, sich an ihm vorbeizudrängen.
»Wo willst du hin?« Er stellt sich ihr in den Weg. »Bei diesem Wetter kannst du nicht fahren.«
»Sagt ein Mann, der gerade aus seinem Auto gestiegen ist und dem es egal ist, wenn wir alle verhungern.«
Ich hoffe, er wird sie gehen lassen. Ich kann ihre Stimme schon jetzt nicht mehr ertragen.
»Wo ist Charlie?«, will Simon wissen.
»Im verschlossenen Arbeitszimmer, das wir in unverschlossenes Arbeitszimmer umbenannt haben. Du kannst nach Herzenslust darin herumstöbern.«
Mein Herz schlägt schneller. Ich erwäge, ins Haus zu laufen und die Treppe hinaufzustürmen. Ich sehe vor mir, wie ich es tue. Aber ich bleibe, wo ich bin.
»Charlie hat den Schlüssel gefunden?«, fragt Simon.
»Es steht ein Schreibtisch drin. Der Schlüssel war in der obersten Schublade.« Liv lächelt mich plötzlich an, als hätte sie beschlossen, es sei okay, mich in diesen Teil des Gesprächs miteinzubeziehen. »Ich habe das Fenster eingeworfen.«
»Du hast was?«
»Mit einem Stein aus dem Garten. Drei Steinen, genauer gesagt. Es waren drei Versuche nötig, aber schließlich habe ich es geschafft. Char und ich haben eine Leiter aus der Garage hergeschleppt, und Char ist durch das zertrümmerte Fenster eingestiegen. Es war meine Idee«, ruft sie mit erhobener Stimme hinter Simon her, der ins Haus marschiert. Ich laufe hinter ihm her. »Charlie wusste nichts davon!«
Durch die Küche, in den Flur, die Treppe hinauf. Nicht denken, nicht denken. Ich kann es schaffen, wenn ich mir einrede, dass ich nur Simon Waterhouse folge.
Zwei Minuten später stehe ich auf dem Treppenabsatz vor dem Arbeitszimmer und schaue hinein. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Ich sehe nichts, was mich schockiert. Das Arbeitszimmer ist mit zwei Lehnstühlen, einem Schreibtisch, einem Computer, einem Teppich und einer Regalwand ausgestattet. Aber nur auf den beiden obersten Regalbrettern stehen Bücher. Der Rest ist voller Familienfotos: Jo, Neil, die Jungs mit ihren Großeltern. Es gibt auch ein Foto von mir, Luke, Dinah und Nonie in unserem neuen Haus, kurz nach unserem Einzug.
Ich versuche mir vorzustellen, wie entsetzt Jo 2003 gewesen
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