Der kalte Schlaf
sein muss, als ich mit dem Schlüssel in der Hand dastand und drohte, dieses Zimmer aufzuschließen, als ich witzelte, was für ein Spaß das sein würde. Was wäre geschehen, wenn ich darauf bestanden hätte? Wenn ich Jo überwältigt und gegen ihren Willen das Zimmer betreten hätte? Was hätten wir alle gesagt und getan, wenn sich herausgestellt hätte, dass im abgeschlossenen Arbeitszimmer des angeblichen Ferienhauses ganze Regalwände voller Fotos von uns stehen, von Jos Familie?
Und von Neils Familie. Neil ist kein Mörder, aber hierüber wusste er Bescheid. Kein Wunder, dass ihm am Mittwoch so bange zumute war, als ich mich nach Little Orchard erkundigte und erklärte, Luke und ich hätten daran gedacht, mal wieder hinzufahren.
»Etwas gefunden?«, will Simon von Charlie wissen, die am Computer sitzt, als gehöre er ihr.
»Ja.« Sie reicht ihm eine blaue Mappe. »Lag in einer Schreibtischschublade.« Die Mappe ist mit schwarzem Stift beschriftet, aber erst als Simon die Mappe aufschlägt, kann ich erkennen, was dort steht.
»War doch eine gute Idee, nach Little Orchard zu fahren«, sagt Charlie zu mir.
Ich kann nicht antworten. Meine Schwägerin, die Frau des Bruders meines Mannes, die Frau, die Dinah und Nonie jeden Mittwoch nach der Schule was zu essen macht und meistens auch einmal am Wochenende, ist sehr wahrscheinlich eine Mörderin. Und ich befinde mich mit zwei Polizisten in einem Landhaus in Surrey und werde vermutlich bald eingeschneit sein. Wer wird es Luke sagen? Jemand muss es ihm sagen. Alles.
»Ich sollte zu Hause anrufen«, sage ich. Simon blickt nicht von den Papieren auf, die er studiert. Ich sage mir, dass ich seine Erlaubnis nicht brauche, um meinen Mann anzurufen, und gehe in das Zimmer, das vor sieben Jahren, als wir hier Ferien gemacht haben, unser Schlafzimmer war, meins und Lukes. Nur die Bettwäsche ist anders: nicht mehr weiß mit blauer Kante, sondern einfach nur weiß.
»Ich bin’s«, sage ich, als Luke ans Telefon geht. »Ist alles in Ordnung? Geht es den Kindern gut?«
»Alles bestens. Hast du vor, mir irgendwann mitzuteilen, was los ist?«
»Ja, aber … nicht jetzt. Ich muss auflegen. Kann ich mal kurz mit Dinah und Nonie sprechen?«
»Nein, du kannst mit mir sprechen.« Ich habe ihn verärgert.
»Lass sie nicht aus den Augen, ja? Bis ich nach Hause komme.«
»Und das war’s, Gespräch beendet?«
»Ich muss auflegen.«
»Warum hast du dann überhaupt angerufen?«, fragt er. »Du kannst doch nicht einfach erklären ›Nicht jetzt‹ und …«
»Lass sie nicht aus den Augen«, wiederhole ich und würge ihn ab, denn ich brenne ebenso sehr darauf, ins Arbeitszimmer zurückzukehren, wie ich vor ein paar Minuten darauf brannte, es zu verlassen. Ich hätte Luke nicht anrufen sollen, es hat mir nur bewusst gemacht, wie groß die Distanz zwischen uns geworden ist.
Simon hat sich nicht von der Stelle gerührt. Er blättert immer noch den Ordner durch. »Veronique Coudert war die Vorbesitzerin von Little Orchard«, berichtet er. »Sie hat das Haus an Jo und Neil verkauft.«
Richtig, denke ich, als hätten seine Worte eine Erinnerung ausgelöst. An was? Ich weiß nicht, ob Simon es bewusst tut, aber er erinnert mich daran, dass ich nicht zusammenbrechen darf. Es gibt Dinge, die ich noch herausfinden muss. Die wir herausfinden müssen.
»Wie es aussieht, hatten sie einen anderen Zweitwohnsitz, bevor sie dieses Haus kauften«, fährt Simon fort. »Die Little Manor Farm in Pulham Market.«
»Kat Allen kam von dort«, sage ich.
»Sie haben es 2002 verkauft. Sich vergrößert«, sagt Charlie.
Ich zwinge mich zuzuhören, als sie Simon von einem Zusammentreffen in einem Kostümverleih erzählt: Jo traf Kat Allen und war nicht erfreut darüber. Ich will es nicht hören. Ich will wissen, was das alles zu bedeuten hat, aber ohne mich konzentrieren zu müssen. Normalerweise bin ich gut darin, konzentriert zuzuhören, aber heute Abend ist es beängstigend, zu schwer. Meine Gedanken haben sich aufgelöst, sie werden nur durch straffe Schnüre zusammengehalten, die fast bis zum Zerreißen gespannt sind. Ich fühle mich unwirklich, während Charlie spricht, als wäre ich ein Geist, den sonst niemand sehen kann. Aber sogar dieses Gefühl ist nicht stark genug, mich davon abzuhalten, zu begreifen, was Charlies Geschichte bedeutet, auch wenn die genauen Details an mir vorbeigleiten, bevor ich sie festhalten kann. Es bedeutet, dass Jo eine Mörderin ist. Sie hat in einem Kostümverleih
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