Der kalte Schlaf
wussten, Sharon würde Sie nicht erkennen – schließlich hatte sie Sie nie zu Gesicht bekommen. Auch nicht bei der Hochzeit von Amber und Luke, denn die beiden haben im Ausland geheiratet, Tausende von Meilen von allen Menschen entfernt, die sie kannten. Ihretwegen, weil Sie sich angemaßt hatten, über ihre Hochzeit zu bestimmen, obwohl Ihnen das gar nicht zustand. Und Sie brauchten auch nicht zu befürchten, dass Sharon ein Foto von Ihnen bei Amber gesehen haben könnte, weil es in Ambers Haus kein Foto von Ihnen gibt, richtig? Genau wie es keine Fotos von Kirsty in Ihrem zweiten Heim gibt, in Little Orchard. Und zwar aus demselben Grund.«
Keine Reaktion von Jo.
»Sie haben einen von Sharons Ersatzschlüsseln gestohlen. Amber meint, wenn Sie in der Küche waren, hätten Sie die Schlüssel sehen müssen. DS Ursula Shearer, die damals die Ermittlungen leitete, bestätigt das. Die Schlüssel lagen zusammen mit dem Obst in der Obstschale, stimmt’s? Sechs oder sieben lose Schlüssel, alle identisch. Sharon hatte viele Ersatzschlüssel. Sie verlegte ihre Schlüssel häufig, ließ sie im Büro oder bei anderen Leuten liegen oder warf sie mit dem Altpapier weg. Hat Amber Ihnen das erzählt, ohne zu ahnen, was Sie mit dieser Information anstellen würden? Sie kann sich nicht erinnern, ob sie es Ihnen erzählt hat oder nicht. Ich glaube, sie hat es getan. Es dürfte kein Problem für Sie gewesen sein, einen Schlüssel einzustecken, während Sharon Tee aufbrühte. Nach einem gemütlichen Schwätzchen mit Sharon gingen Sie, mit einem der zahlreichen Ersatzschlüssel in der Tasche und mit dem Gefühl von Unfehlbarkeit. Erzählen Sie mir nicht, dass es Ihnen kein Gefühl der Macht gab, ohne Ambers Erlaubnis mit ihrer besten Freundin zu sprechen, im Wissen darum, dass Sie sie töten würden.«
»Es ist zweifellos kontraproduktiv, Sätze mit den Worten ›Erzählen Sie mir nicht‹ zu beginnen«, murmelte Jos Anwältin.
»Dann warteten Sie. Wenn Sie Amber sahen, erkundigten Sie sich nach Sharon, nach der Anwohnerinitiative, dem Four Fountains – zeigten sich freundschaftlich interessiert. Amber vertraute Ihnen mehr an als sonst, da sie und Sharon sich zerstritten hatten. Vordergründig wegen des Pubs, aber Ambers Schuldgefühle waren die eigentliche Ursache. Amber fühlte sich schuldig, weil sie Sharon belog, und Sie schürten dieses Gefühl noch, indem Sie ihr erzählten, sie habe ihre beste Freundin verraten. Amber brach den Kontakt zu Sharon eine Zeitlang ab, erkannte aber schnell, dass sie sich ohne Sharon nur noch schlechter fühlte. Also vertrugen sich die beiden wieder. Amber hielt sie über alles auf dem Laufenden, und sie erwähnte nichts von einer Besucherin, die sich unter einem falschen Namen vorgestellt hatte, oder von einem fehlenden Haustürschlüssel. Ihr Plan war aufgegangen. Niemand wusste, dass Sharon und Sie sich je begegnet waren.
Der nächste Schritt war das Feuer. Wo haben Sie geparkt? Nicht zu nahe bei Sharons Haus. Sie konnten nicht riskieren, dass jemand Ihr Auto sah. Die Feuerwehruniform werden Sie in einer Tüte mitgebracht haben – Sie haben sie erst übergezogen, als Sie in Sharons Haus waren.«
Wenn eine Frau, die Jo heißt, ein Haus betritt und ein unbekannter Feuerwehrmann es wieder verlässt, wer von beiden ist dann verantwortlich für das Verbrechen, das in der Zwischenzeit verübt wurde? Ginny Saxon hatte erwähnt, dass das Haus für das Ich steht. Jo Utting besaß zwei Häuser. Simon überlegte, wie schwer es ihr wohl fiel, ihr wahres Ich zu finden und mit ihm zu kommunizieren, nachdem sie so viele Jahre lang eine Rolle gespielt hatte. Er hatte das unbehagliche Gefühl, weniger mit einer Person als mit einem Überlebensinstinkt mit einem menschlichen Gesicht zu sprechen.
»Was hätten Sie am Freitag, den dritten Dezember, mit Dinah und Nonie Lendrim angestellt, wenn Sie nicht daran gehindert worden wären?«, fragte er. Manchmal konnte man einem Verdächtigen eine Antwort entlocken, wenn man schnell und überraschend das Thema wechselte. Diesmal nicht.
Also zurück zu dem Mord an Sharon Lendrim. »Was Sie nicht gewusst haben können, was Sie erst erfahren haben werden, als Sie es in der Zeitung lasen, war, dass Sharon am Abend ihres Todes erst spät nach Hause kam – sie war ausgerechnet im Four Fountains gewesen. Wenn Sie nur ein wenig früher gekommen wären, wäre Sie vielleicht noch wach gewesen. Sie hatten Glück. Weniger Glück hatten Sie, als Sie dasselbe noch einmal
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