Der kalte Schlaf
sich beruhen lassen. Manchmal erwähnte sie es wochenlang nicht, um dann unvermittelt zu sagen: ›Weißt du, eines Tages wird Luke herausfinden, dass du mehrere Jahre vor ihm von Sharons Testament wusstest. Wie wird er sich wohl fühlen, wenn er erfährt, dass du ihm das verschwiegen hast?‹ Sie erwähnt es immer noch gelegentlich. Nein, oft. Luke ist kein Dummkopf, sagt sie: Er sei klug genug, um zu wissen, dass er seine eigenen Kinder ebenso sehr geliebt haben würde wie Dinah und Nonie, wenn nicht mehr. Aber ich hätte ihn einfach der Gelegenheit beraubt, eigene Kinder zu haben. Du bist ein Dummkopf, sagt sie, wenn du glaubst, dass er das nicht als den schlimmsten Verrat betrachten wird.«
»Klingt so, als wäre es ihr gelungen, Sie davon zu überzeugen«, sagt Simon.
Ich nicke. »Wenn ich entgegne, Luke wird es nur herausfinden, wenn du es ihm sagst, versichert sie, das würde sie nie tun, aber ich müsse es ihm unbedingt sagen. Und jedes Mal fügt sie hinzu, so was käme immer irgendwann ans Tageslicht. Das ist einer ihrer Lieblingssätze, mit denen sie mir Angst macht. Dabei wollte ich doch nur, dass sie mir versichert: ›Keine Sorge, alles wird gut.‹ Selbst wenn es nicht stimmt. Wie jetzt.«
»Wie jetzt?« Simon blickt über die Schulter, als erwarte er, Jo bei uns im Zimmer zu sehen. Aber ich rede nicht mehr über sie.
»Sagen Sie mir, dass Sharon nicht gestorben ist, weil ich Jo von ihrem Testament erzählt habe. Sagen Sie mir, dass sie nicht deshalb ermordet wurde.«
Simon schließt das Fenster. Ich wische mir über die Augen, und ich weiß, ohne dass er es aussprechen muss, dass ich diesmal nicht haben kann, was ich will.
»Sie sollten mit Luke darüber reden«, sagt er. »Er wird nicht böse sein. Er wird es verstehen.«
»Sie kennen ihn doch gar nicht.«
»Das muss ich auch nicht. Ich kenne die Wahrheit. Das reicht.«
»Und das bedeutet?«
»Sie haben es schlecht gehandhabt, aber es ist ja alles gut gegangen. Sie, Luke und die beiden Mädchen sind eine glückliche Familie.« Simon zuckt die Achseln. »Manche Wahrheiten sind längst nicht so schlimm wie befürchtet.«
Daraufhin fühle ich mich ein paar Sekunden lang besser. Bis er hinzufügt: »Aber manche sind schlimmer.«
Ich höre ein gedämpftes Klingeln. Simon zieht sein Handy aus der Hosentasche. »Sam«, sagt er. Er lauscht längere Zeit, wirft mir anfangs einen Blick zu und vermeidet es dann, mir in die Augen zu sehen. Seine Haltung ist starr. Er ist beunruhigt. »Was wird unternommen, um sie zu finden?«, fragt er.
Sie. Das muss nichts bedeuten.
»Setzt alle Leute dran – alles andere ist unwichtig.«
Ich bin aufgesprungen. »Geht es Dinah und Nonie gut?« Luke wollte mich nicht mit den Mädchen sprechen lassen, als ich vorhin anrief. Warum nicht? Auch wenn er noch so wütend auf mich war, er hätte mich mit den Kindern reden lassen.
»Ihr Mann hat sich an meinen Sergeant gewandt«, erklärt Simon und schiebt das Handy wieder in die Hosentasche.
Nein. Bitte, Gott, nein.
»Als Sie vorhin anriefen und ihm sagten, er solle die Kinder nicht aus den Augen lassen, war es schon zu spät. Jo hatte sie bereits vom Schulbus abgeholt und sie mitgenommen. Sie wollte mit ihnen shoppen und essen gehen – um ihm zu helfen. Luke wollte Ihnen das nicht sagen, weil Sie bereits so beunruhigt wirkten. Er wusste zwar nicht, wovor Sie solche Angst hatten, aber er war sich sicher, dass ein Einkaufsbummel mit Tante Jo nicht dazugehörte. Allerdings hat er auch nicht verstanden, warum sie so wild darauf war, in dem Schneetreiben mit den beiden Mädchen einkaufen zu gehen, und das ohne William und Barney.«
Ich spüre, wie ich falle. Simon fängt mich auf und hält mich fest. »Nehmen Sie nicht das Schlimmste an«, sagt er. »Den Kindern wird schon nichts geschehen. Mein Chef Sam ist der Beste. Er wird sie finden.«
14
9. 12. 2010
»Nur eins weiß ich nicht sicher, und zwar wie Sie an Sharon Lendrims Hausschlüssel gekommen sind«, sagte Simon zu Jo Utting, die nur körperlich im Vernehmungsraum anwesend zu sein schien. Ihre Augen starrten geradeaus in Leere. Gelegentlich flackerten ihre Augenlider.
»Sie werden keine Antwort von ihr bekommen«, sagte ihre Anwältin, eine junge Schwarze, die ihn in der letzten halben Stunde in einem Ton herumkommandiert hatte, als wären sie erschöpfte Eltern und Jo Utting ihr wenig kooperatives Kleinkind. »Mir sagt sie auch nichts, dabei bin ich auf ihrer Seite.« Der Mangel an Begeisterung in ihrem Ton
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