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Der kalte Schlaf

Der kalte Schlaf

Titel: Der kalte Schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Hannah
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Möglichkeit: Entgegen aller Logik hat sie sich in den Kopf gesetzt, dass das gesuchte Stück Papier in dem verschlossenen Zimmer liegen muss. Aber wenn es dort ist, hat sie es nicht zu Gesicht bekommen. Punktum. Solange sie nicht hellsichtig oder telepathisch veranlagt ist – und an beides würde sie nicht glauben –, kann sie nicht in einer Vision gesehen haben, was sich im Arbeitszimmer befindet. Zudem fand man den Abdruck dieser Worte vor einem Monat auf Katharine Allens Notizblock – und wir schreiben das Jahr 2010. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Worte Weihnachten 2003, als Amber in Little Orchard war, geschrieben wurden und die Seite vom Block abgerissen wurde?
    Amber weiß das alles, und vermutlich hat sie versucht, sich selbst eine ordentliche Standpauke zu halten, aber vergebens: Ihre Instinkte schreien ihr zu: »Es war in dem verschlossenen Zimmer.« Sie wird es nicht zugeben, insbesondere nicht gegenüber der Polizei, weil es keinen Sinn ergibt, und es macht ihr Angst, dass das, was sie glaubt, so wenig sinnvoll ist. Sie würde es auch nicht zugeben, wenn sie und ich miteinander allein wären, obwohl das, wofür ich in ihren Augen stehe, reiner Humbug ist.
    Es spielt keine Rolle, auch wenn sie es nie zugibt. Es geht mir nicht darum, Leute zu zwingen, Dinge zuzugeben, für die sie sich schämen. Das hier ist kein Schauprozess. Obwohl ich es schön fände, wenn ich mehr Leute ermutigen könnte, sich weniger für ihre Irrationalität zu schämen und toleranter dem gegenüber zu sein, was sie für Müll halten, der ihnen das Hirn verstopft. Jeder verrückte Aberglaube erfüllt seinen Zweck, er kann neu formatiert und in etwas Wundervolles und Befreiendes verwandelt werden. Wenn man es mit der Angst zu tun bekommt, bedeutet das immer, dass man einen Schritt weitergekommen ist oder zumindest die Chance hat, einen Schritt weiterzukommen, wenn man sie nur ergreifen würde, wenn man sich nicht von seinen Ängsten lähmen lässt. Ich spreche von Ängsten ohne offensichtlichen Grund, nicht von der Angst, die man empfindet, wenn man im Meer ist und ein großer Hai auf einen zuschwimmt.
    Also … Amber streitet nichts von dem ab, was ich sage, obwohl sie ein Mensch ist, der sich sehr gern streitet, also werde ich es riskieren, zwei weitere Beobachtungen zuzulassen. Sie hat uns vor ein wahrhaft unmöglich zu lösendes Rätsel gestellt. Wenn sie das Blatt Papier in Little Orchard gesehen hat, dann nicht in dem einen Zimmer, das sie nie betreten hat. Das ist schlicht unmöglich. Und doch ist sie sich ganz sicher, es nirgendwo anders in Haus oder Garten gesehen zu haben, und sie ist nicht bereit, die Möglichkeit einzuräumen, dass sie es gar nicht in Little Orchard gesehen hat, sondern irgendwo anders.
    Warum sollte Amber sich wünschen, dass wir uns alle – auch sie selbst, besonders sie selbst – in den Knoten eines nicht zu lösenden Rätsels verheddern?
    Vorhin sprach ich davon, dass ein Rätsel sich hinter einem anderen Rätsel verbergen kann: ein verletzliches, leicht zu lösendes Rätsel verbirgt sich im Schatten eines zäheren, widerstandsfähigeren Geheimnisses. Ich stellte also eine Theorie auf, die weder Zustimmung noch Ablehnung erfahren hat: Die entscheidende Frage sei, warum es Amber immer noch so wichtig ist, zu erfahren, warum Jo mit Mann und Kindern verschwand und dann wieder auftauchte. Ich schlug einige Möglichkeiten zur Beantwortung dieser Frage vor, nur um mich sofort einer neuen und weit dramatischeren Frage gegenüberzusehen. Ich behaupte nicht, dass Amber irgendetwas davon absichtlich oder bewusst getan hat, aber es würde mich überraschen, wenn ihr Unterbewusstsein nicht sehr gut wüsste, dass die Worte »verschlossenes Zimmer« die Aufmerksamkeit wie ein Magnet auf sich ziehen müssen.
    Das unlösbare Rätsel hinter dem unlösbaren Rätsel. Unlösbar allerdings auf sehr verschiedene Weise: Einmal geht es um den Inhalt, einmal um die Form. Das Rätsel, das nicht gelöst werden darf, weil das zu viel Schmerz und Leid bewirken würde, verbirgt sich hinter dem Rätsel, das wir nicht lösen können, weil es buchstäblich unlösbar ist, es sei denn, die Vorrausetzungen wurden inkorrekt wiedergegeben. Trotzdem bemühen wir uns weiterhin, es zu knacken, und hoffen, dass wir schlau genug sein werden, das Unmögliche möglich zu machen. Wir würden uns fühlen wie Gott, wenn wir es schaffen könnten. Und dabei vergessen wir das wenig glamouröse, leicht zu lösende Rätsel, das sich

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