Der kalte Schlaf
Dinah und Nonie zu tun. Aber ich kann ihn nicht rauswerfen, Amber. Wie könnte ich? Er wäre verloren, wenn er für sich selbst sorgen müsste, vollkommen verloren.«
Sie faltet die Hände und mustert mich scharf. Warum? Warum zerhackt sie nicht weiter das Gemüse? »Oder etwa nicht?«, fügt sie hinzu, als keine Antwort von mir kommt. »Gib es zu.«
Einmal hat es mit Ehrlichkeit geklappt, es ist einen Versuch wert, es noch einmal damit zu versuchen. »Ja, er wäre verloren, anfangs, aber … aber das ist sein Problem, Jo. Er ist im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte und durchaus in der Lage, sich ein eigenes Leben aufzubauen, wenn er das will, trotz seines Alters. Ich mag eine selbstsüchtige Kuh sein, das gebe ich offen zu, aber man hat das Recht, das eigene Leben zu genießen – das einzige Leben, das man hat. Ich finde, das zählt mehr als Verpflichtungen gegenüber anderen. Ich habe Dinah und Nonie zu mir genommen, weil ich es so wollte. Ich habe sie gern bei mir, sie bereichern mein Leben. Nie, in einer Million Jahren nicht, würde ich Quentin erlauben, bei uns einzuziehen.«
»Doch, das würdest du. Wenn Luke ein Einzelkind wäre, wenn ihr vor der Wahl ständet, Quentin bei euch wohnen zu lassen oder …«
»Jo, ganz im Ernst. Unter keinen wie auch immer gearteten Umständen würde ich mich bereit erklären, unter demselben Dach zu leben wie Quentin Utting.«
»Tja …« Sie denkt über meine Worte nach. »Luke empfindet ganz sicher nicht so. Und wenn du so denkst, hast du es verdient, allein und elend zu sterben, ohne einen Menschen, der dich liebt und sich um dich kümmert.« Sie wendet sich ab und schneidet eine zweite Packung Mozzarella auf. Der Weichkäse rollt auf die Arbeitsplatte wie ein zerquetschter nasser Golfball.
*
Du hast es verdient, elend zu sterben. Und allein. Ohne einen Menschen, der dich liebt und sich um dich kümmert.
Verdammt. Niemand außer mir hat das gehört. Verdammt, verdammt, verdammt.
»Ich glaube kaum, dass ich das verdient habe«, erwidere ich sachlich und versuche das Gefühl zu ignorieren, Gift in den Adern zu haben. »Wenn ich im Alter unerträglich werde, meinetwegen, aber wenn ich auch im Alter dafür sorge, dass die Menschen um mich herum sich wohl fühlen, anstatt ihnen den Wunsch einzuflößen, sich am nächsten Garderobenhaken aufzuhängen, habe ich es wohl kaum verdient, elend und allein zu sterben.« Das mache ich nur bei Jo: Ich rede, als wäre ich meine eigene Anwältin vor einem Schwurgericht.
»Lassen wir das Thema«, sagt sie angespannt, den Blick auf ihren Stapel Basilikum gerichtet.
Luke empfindet ganz sicher nicht so.
Doch, das tut er. Luke würde ebenso wenig wollen, dass sein Vater bei uns wohnt. Er würde es noch furchtbarer finden als ich. Luke hat nie mit Jo über seine Gefühle ihm gegenüber gesprochen. Sie ist eine Lügnerin, und ich will ihr zeigen, dass ich das weiß. Das Thema fallenzulassen, ist das Gegenteil von dem, was ich will.
»Ich glaube nicht, dass meine Ansicht, dass niemand das eigene Wohlergehen zugunsten eines anderen opfern sollte, mich automatisch …«
»Du kannst nie etwas auf sich beruhen lassen, oder?«, fährt Jo mich an. Mit der Packung Linguine, die sie in der Hand hält, schlägt sie auf das Schneidebrett ein. »Du kannst es nicht einfach … dabei bewenden lassen. Du musst mich unbedingt weiter reizen …«
Ich höre ein Stöhnen hinter mir: Kirsty. In Schlafanzug und Bademantel, mit feuchten Haaren. Und Hilary, in Jeans und nassgespritztem Shirt. Ich bin beschämend froh darüber, die beiden zu sehen, und muss gegen den Drang ankämpfen, Hilary zu fragen: »Wie viel hast du mitbekommen?«
»Hallo, Leute«, sage ich stattdessen. »Alles gut? Hast du schön gebadet, Kirsty?« Jo hat mir einmal vorgehalten, dass ich ihrer jüngeren Schwester nie irgendwelche Fragen über sich selbst stelle, also tue ich das jetzt immer. Was macht es schon, wenn sie nicht antworten kann? Du machst es nicht für dich, sondern für sie. Wie würdest du dich fühlen, wenn dich nie jemand fragte, wie’s dir geht oder was du so gemacht hast?
Hilary und Kirsty übernachten häufig bei Jo. Im Wohnzimmer stehen zwei Schlafsofas, die Jo extra zu diesem Zweck gekauft hat. Ungefähr zur selben Zeit ließ sie den Stauraum unter der Treppe sowie einen Teil des bisher einigermaßen großen Elternschlafzimmers zu zwei winzigen Duschbädern ausbauen, damit genug Badezimmer für alle Besucher vorhanden sind.
»Ich glaube, Kirsty und ich
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